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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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nur das formelhafte Ende einiger Thesen.«
    Der Interviewer fragte leicht lächelnd:
    »Und zwar?«
    Das hat den Professor definiert, dieses eine Wort, dieses eine Wort »Ableitung«. Später, als die Ableitungen schwieriger wurden und vom Schüler nicht mehr zu verstehen waren, blieb immer noch der Reiz des Wortes. Es verlieh dem Professor Sicherheit, er strahlte die Gewissheit aus, er würde die Ableitung auch heute, auch vor diesen neuen Schülern, aufschreiben und erklären können. Die Frage, was denn c 2 sei, interessierte den Schüler keine Spur, selbst die These, es würde sich aus a 2 und b 2 zusammensetzen, war ihm bis zu dem Punkt egal, an dem der Professor ankündigte, es ableiten zu wollen. Der Schüler war von Menschen umgeben, die Behauptungen aufstellten, Urteile fällten, Verbote und Empfehlungen aussprachen. Aber immer blieben sie ihm – selbst auf Rückfragen – die Ableitungen schuldig, falls sie sich nicht offensichtlich schon in den Angaben geirrt hatten. Der Schüler begriff nicht, warum er sich vor der Mathematikstunde nicht fürchtete. Gemessen an den Noten für seine Arbeiten hätte er zittern und beben müssen. Er tat es nicht. Er sah aufmerksam zu, wie der Professor die Formel an die Tafel schrieb und die Schüler aufforderte, mit ihm zu überprüfen, ob sie denn auch stimme. Der Schüler wusste natürlich genau, die Äußerung des Verdachtes, sie könne auch
nicht
stimmen, war nur ein Theatertrick. Aber gerade der ließ ihn wach sein.
    »Sie werden noch nicht bestreiten wollen, dass …«, sagte der Interviewte und ergänzte den Satz mit einer seiner politischen Grundthesen.
    »Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, hörte er als Antwort, »nur ist mir nicht klar, wo Sie da einen Zusammenhang sehen.«
    »Wiewohl ich befürchte, dass Sie meinetwegen keine Sondernummer herausbringen werden, versuche ich es.« Der Interviewte ordnete den Begriff »Faschismus«. Es gebe einen historischen Fascismo, von dem sich etwa der Nationalsozialismus ableiten lasse, es gebe aber auch einen unhistorischen Faschismusbegriff, der die Totalität undifferenzierter Urteile, vor allem Verurteilungen, beschreibe. Er begann aus dem Kopf Passagen des Autors auf ihre politische Qualität zu untersuchen, er begann die Quadrate über dessen Urteilen zu bilden.
    Der Professor stand da, mit der Kreide und diesem großen hölzernen Dreieck in Händen, und hatte Spaß an seiner Darbietung. Die Wortfolgen waren gut einstudiert, seit Jahren erprobt, die Haltung von Kreide und Dreieck war perfekt, die Stimme saß richtig, vermittelte nie den Eindruck von Unsicherheit, das Publikum hatte keine Veranlassung, das Interesse zu verlieren. Nach teils gezeichneten, teils gerechneten Umwegen stand auch für einen Schwachmatikus fest, die Formel stimmte. Ohne diese beweisende Ableitung des Professors wäre a 2 + b 2 = c 2 Anmaßung, Unterstellung, Schikane geblieben. Welchen Grund sollten Schüler gehabt haben, dem Mann zu glauben, hätte er nicht so exakt abgeleitet? So ernsthaft und doch vergnügt.
    Der Interviewte begann aus dem Frühwerk des großen Dichters zu zitieren. Er konnte die Zitate präzise auswendig, er legte sie vor, quasi als Material einer ersten von drei Geraden, die zueinander in einem bestimmten Verhältnis stehen sollten. Der Interviewer wurde ungeduldig. Er drückte auf die Stopptaste seines Gerätes. Sein Einwurf kam übertrieben liebenswürdig. »Diese Passagen sind mir alle sehr geläufig, ich habe, wenn Sie mir die Anmerkung gestatten, über den Dichter dissertiert, ich will von Ihnen wissen, wie …« Du liebe Zeit, dachte der Interviewte, der Mann ist ja nicht an meiner Beweiskette interessiert, er will mich nur widerlegen, der Unhaltbarkeit meiner Thesen überführen. Weil ich seinen Hausgott gekränkt habe, sein Idol, seinen Meister. Das ist kein Interview, das ist ein Prozess, dessen Urteilsbegründung in der Zeitung erscheinen soll.
    Der Interviewte sagte: »Wenn Sie eine Behauptung von mir ablehnen, wenn Sie sie ungeheuerlich finden, dann müssen Sie mir die Chance geben, abzuleiten, wie ich dazu komme. An der nachträglichen Kürzung und damit Entstellung meiner Argumentation werde ich Sie nicht hindern können, Journalisten pflegen den Sachzwang Platzmangel ins Treffen zu führen, aber ich möchte wenigstens dieses Interview mit der Gewissheit beenden,
Ihnen
« – der Interviewte sah dem Interviewer aufsässig ins Gesicht – »die Formel bewiesen zu haben.«
    »Formel«, fragte der Interviewer,

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