Die Socken des Kritikers
Autorin akzeptierte schon den ersten der vorgeschlagenen Termine.
Vor Begegnungen von derartiger Wichtigkeit überlegen sich Frauen besonders lange, was sie anziehen sollen. In diesem Fall hatte die große, schlanke Person mit langem braunem Haar und ebenmäßigem Gesicht immer die Wahl zwischen zwei Typisierungen. Das bildete sie sich jedenfalls ein. Sie meinte, in der einen Garderobe mehr wie eine Schauspielerin, in der anderen mehr wie eine Schriftstellerin auszusehen. Sie entschied sich für Letzteres.
Die Verlegerin saß schon am Tisch, als die Autorin pünktlich kam. Mit bezauberndem Lächeln bat sie die ihr optisch schon von der Bühne her bekannte Frau zu sich, verbrauchte nicht viel Zeit mit der Begründung ihrer Vorliebe für japanische Küche, war hocherfreut, diese Vorliebe geteilt zu sehen und kam dann sehr bald zum Thema. Sie habe die letzten Wochen pausenlos damit verbracht, jene Titel des laufenden Verlagsprogrammes und der Backlist zu lesen, die ihr nicht bekannt waren. Darunter auch den Erstlingsroman ihrer Gesprächspartnerin. Sie wolle ihr nun sagen, sie finde das Buch noch weit besser als die recht gute Resonanz, sie lese da eine faszinierende Beobachtungsgabe heraus, kurz, sie wolle jetzt oder sehr bald wissen, was als Nächstes käme. Während der Zeit hing die Autorin an den Lippen ihres Gegenübers. Nicht nur des Lobes wegen, sondern auch der unendlichen Eleganz wegen, mit der es ausgesprochen wurde, so als ob es zum rohen Fisch gehörte wie die vielen raffinierten Saucen. Diese Frau hat was, dachte die Autorin, ich spür’s, ich hätte sie gerne zur Freundin, aber wir müssen ein anderes Verhältnis zueinander kultivieren, denn ich bin in der Position der Lieferantin.
Sofort nach dem Essen bat die Verlegerin um Nachsicht, weil der nächste Termin im Verlag drängte. Noch einmal wiederholte sie, auf das zu Erwartende
sehr
neugierig zu sein. Sie ging wie eine Königin, die es gewohnt ist, sich unters Volk zu mischen.
Mit glühenden Wangen erzählte die Autorin ihrem Radiologen im Bett von dieser ersten Begegnung. Sie schwärmte so, dass er die Hoffnung äußerte, die Dame doch auch bald kennenzulernen. Und dann erzählte er ihr, erst eher verlegen, dann aber, als sie immer interessierter wurde, genauer und engagierter eine Geschichte aus der Klinik. Ob das nicht ein Romanstoff wäre?
Sie hätten an der Klinik einen Professor, einen Superstar, einen Mann, der mit relevanten Forschungsergebnissen auf seinem Spezialgebiet, der Kernspintomografie, quer durch die Welt reist, von Kongress zu Kongress, Referate hält, größte Anerkennung erntend, der aber ein Bluffer ist. »Ich bin durch Zufall draufgekommen, dass hinter dem Kerl eine Frau steht, eine unauffällige Dozentin, die forscht, und zwar auf das Ingeniöseste, und die den Professor, ihm wohl auch körperlich wahrscheinlich bis zur Hörigkeit und darüber hinaus verbunden, mit publizierbaren, von ihr auch zu Papier gebrachten Erkenntnissen füttert. Der Kerl selbst kann nichts so gut wie Englisch. Und sich verkaufen, das auch.«
Die Autorin erklärte ihrem Radiologen, eine Konstellation dieser Art sei sicherlich ein interessanter Plot, sie habe aber Scheu, sich auf ein Gebiet zu begeben, von dem sie nichts verstehe. »Ich meine nicht die Abhängigkeit«, sagte sie lachend, »ich meine die Medizin.« Da müsse sie viel zu viel recherchieren, das würde sie nur unsicher machen.
Aber in der Sekunde fiel ihr ein: ich kenne diesen Stoff auch genau. Aus der Nähe.
Von all den Gurus und Geniedarstellern unter den Theatermachern war ihr derzeitiger Intendant der ihr widerwärtigste. Die Personalunion eines eleganten und eloquenten Weltkulturmannes und eines gleichzeitig vor Progressivität nicht laufen könnenden Erneuerers. Schon vor Jahren, als er noch nicht ihr Intendant, sondern nur ihr Regisseur war, hatte sie den Verdacht gehabt, er wäre nicht so intelligent wie seine Interpretationen bzw. Rechtfertigungen. Damals war ihr eine diesen Mann offenbar anbetende Dramaturgin und persönliche Referentin aufgefallen, die nie von seiner Seite wich, auf jede leise Frage sofort noch leiser, aber bestimmt antwortete, ihren Meister sichtlich intellektuell aufblies. Die Autorin war der Sache nachgegangen, hatte vom versteckten privaten Verhältnis erfahren und daraufhin seine Art, mit der Trabantin umzugehen, noch unangenehmer und machistischer empfunden. Die Beweiskette wurde immer lückenloser. Der große Theatermacher war Geschöpf einer
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