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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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das sind doch keine literarischen Kriterien?«
    »Sie wollten wissen, wie ich zu einem Urteil kommen konnte. Ich habe es Ihnen gesagt. Sie haben es auf Band. Die Sache mit dem rechten Winkel erkläre ich Ihnen ein anderes Mal. Anhand der Schulterstücke bei Uniformen.«
    Der Interviewte schien einen randpathologischen Wutanfall nur mühsam zu beherrschen. Offenbar war er schwer cholerisch.
    »Einmal noch! Für Sie! Für Ihren weiteren Lebensweg! e 2 + f 2 = g 2 . Ich werde Ihnen jetzt ableiten, warum. Und ich bitte Sie flehentlich, meine Ableitung auf Band aufzunehmen und nicht mitzuschreiben, denn wiewohl nicht übermäßig kompliziert, ist die Ableitung natürlich auch offen für Fehler in der Wiedergabe. Dann formuliere ich, den Stolz auf meine mnemotechnische Perfektion nur mühsam verbergend, meine Ableitung. Zeile für Zeile, Strich für Strich, Zahl für Zahl. Ich trete den Beweis an, dass es – innerhalb des mir zur Verfügung stehenden und möglicherweise von einem Teufel implantierten Koordinatensystems – nur so sein
kann
, dass das Quadrat über g sich aus den Quadraten über e und f zusammensetzt. Und wenn ich zum Schluss bei der Wiederholung der Formel bin, der nackten Wiederholung meiner Eingangsbehauptung, sage ich – am Ende der Atemsäule, aber immer noch nicht atemlos –: Quod erat demonstrandum, demonstravimus.
    Ich sage das natürlich nicht auf Lateinisch und mit ganz anderen Worten, wie sich ja auch das Interview nicht ernstlich mit den Quadraten über den Geraden e, f und g befasst hat. Aber ich sage etwas, das auch lauten könnte: So rechne ich und ich kann nicht anders. Kurz, es ist eine kleine Verbeugung vor der Dramaturgie des Professors.
    Sie werden morgen schreiben: Er hält g 2 für die Summe aus den Quadraten über e und f. Mit der ihm eigenen Überheblichkeit behauptet er, das beweisen zu können und rettet sich, seinen Bildungsdünkel penetrant auslebend, in die Enge getrieben, noch in lateinische Floskeln!
    Kaum lese ich das, wird mir einfallen, wie die während des Satzes ›Quod erat demonstrandum‹ nur leicht spöttischen Augen des Gesprächspartners, also Ihre, geradezu Ekel ausdrückten, als das ›demonstravimus‹ folgte. Diese snobistische Mitteilung, einerseits das Perfekt noch bilden zu können, andererseits ein
Wir
-Gefühl entstehen zu lassen, Sie, den Medienmenschen, in die Ableitung einer kühnen These mit hineinziehen zu wollen, löst bei Ihnen Abscheu aus. Diese schlägt sich dann journalistisch nieder. Handelt es sich um eine audiovisuelle Wiedergabe meiner Formel, dann wird die Ableitung und das diese abschließende, ›daraus folgt‹ so von e 2 + f 2 = g 2 weggeschnitten, dass der Schnitt quer durch den Atem geht. Wodurch der Sprechduktus unsouverän wird.
    Daher sage ich jetzt mit der Sicherheit des Pythagoras und der sonoren Stimme des Professors: Der heute gepflogene Journalismus ist gleich Pest plus Scheiße. Die Ableitung ist gegen Honorar bei mir bestellbar.
    Selbstverständlich ist die Formel
Der heute gepflogene Journalismus ist gleich Pest plus Scheiße
falsifizierbar. Die Ableitung berücksichtigt Argumente wie Blatttypus, Blattlinie, Umbruch, Medienkonkurrenz, Sendungsformat, Programmschema usf. usf. nicht. Gehört doch zum Dreieck Interviewer – Interviewter noch die dritte Gerade. Mittels dieser ist möglicherweise – nicht von mir – auch die Formel beweisbar: Journalisten sind Opfer. Daraus wäre wiederum abzuleiten: Der Interviewte ist Opfer in dem Maße, in dem der Interviewer Opfer ist. Ich höre unseren Vorzugsschüler ungefragt, aber laut, rufen: Kommunizierende Gefäße!«
    Der Interviewer hatte längst die Stopptaste gedrückt, mit immer größerem Befremden und schließlich nur mehr gelangweilt zugehört. Jetzt rief er »Zahlen!« und wandte sich danach noch einmal zum Interviewten:
    »Stehen Sie unter Drogen? Sie können es ruhig sagen, wir schreiben so etwas grundsätzlich nicht. Oder sind Sie in ärztlicher Behandlung?«
    »Weder noch.«
    »Das wundert mich.«
    Er zahlte, grüßte korrekt und ging.
    Tags darauf las der Interviewte:
    »… Man soll den jüngst so heftig diskutierten Äußerungen dieses Mannes keine Bedeutung zumessen. Erstens sind seine Urteile gänzlich unfundiert, nur affektiv dahergesagt, zweitens ist er, was das angesprochene Thema anlangt, zweifelsfrei paranoid. Durchaus auch denkbar, so des Interviewers Gefühl im Nachhinein, dass er seinen ihm immanenten Faschismus mathematisch sublimiert und so …«
    Der
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