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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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»wieso Formel?«
    Der Interviewte verrührte übertrieben lange den Zucker im Kaffee: Wie erkläre ich dem Gegenüber, dass mein Urteil eine Formel ist? Ich rede mich in einen Wirbel. Wie komme ich da heraus?
    Der Professor stand, wenn das Ergebnis feststand, wenn die Falle zugeschnappt war, eitel an der Rampe seiner Bildungsbühne und sagte nach allen erfolgreichen Ableitungen den immer gleichen Satz: »Quod erat demonstrandum, demonstravimus.« Da schwang auch Stolz auf Pflichterfüllung mit. »Was zu beweisen war, haben wir bewiesen.« Das
wir
war nobel, denn
er
hatte bewiesen, genauer gesagt, sein altgriechischer Textautor.
    Es ist die
Columbo
-Dramaturgie, dachte der Interviewte. Natürlich. Da ist über die Jahre eine Fernsehserie ein zwischendurch sogar kultischer Erfolg, in der das Publikum zu Beginn sieht, wer der Mörder ist, auch wie er die Untat begeht, und in der der untersuchende Kriminalist vom ersten Augenzwinkern in der ersten Einstellung an keinen Zweifel daran lässt, die richtige Person zu verdächtigen. Alle Voraussetzungen für Langeweile wären gegeben. Die Langeweile tritt aber nicht ein, weil in den geglückteren Folgen dieser wie Lehrstoff Jahr für Jahr wiederholten Endlosserie die Ableitung amüsiert.
    Der Interviewte versuchte sich wieder zu konzentrieren. »Das mit der ›Formel‹ ist mir so herausgerutscht. Ich hätte ›These‹ sagen sollen. Wollen wir weitermachen?«
    »Gerne.« Der Interviewer war wieder sehr smart. Er drückte auf die Aufnahmetaste.
    »Ich frage vielleicht anders: Sie haben mit Ihrem Urteil eine Position eingenommen, die von der literarischen Welt nicht geteilt wird. Gibt Ihnen das nicht zu denken?«
    Der Interviewte verneinte, formulierte so eine Art von »Viel Feind, viel Ehr« und begann seinen Text aufzusagen. Er hatte äußerste Mühe, sich zu konzentrieren, da in seinem Hirn eine zweite Tonspur ablief. Auf dieser Tonspur war der Text, den er dem Interviewer gerne gesagt, nach dem gefragt zu werden er sich gewünscht hätte.
    »Wissen Sie, der Professor hat mein Leben entscheidend beeinflusst. Ich bin nämlich, wie ich Sie zu registrieren ersuche, nicht nur in der Lage, Menschen zu hassen, die mir ums Verrecken etwas einreden wollen, die Größe eines Dichters zum Exempel, sondern auch gewillt, Menschen über Gebühr zu verehren, wenn sie mir etwas beigebracht haben. Den Professor, Sie erinnern sich, ich habe von ihm erzählt, verehre ich nicht wegen des Lehrfaches Mathematik. Ich kann Mathematik fast so wenig ausstehen wie den von Ihnen so angebeteten großen Dichter. Was ich verehre, ist die Stilistik der Ableitung. Gehen wir vom Studienfach Leben aus. Da gilt es nachzudenken, Schlüsse zu ziehen. Da nützt mir, davon bin ich fest überzeugt, mein Trieb, das Gedachte in einer Formel enden zu lassen. Das Wort Form wie auch das Wort Formulierung haben mit dem Wort Formel genetisch zu tun. Ich formuliere also für mich eine Formel. So zum Beispiel mein Urteil über den von Ihnen – keineswegs geehrter Herr! – so bewunderten großen Dichter. Und dann sage ich mir, den Professor – ich habe von ihm erzählt, nicht wahr? – im Genick spürend, wem soll diese Formel einleuchten, wem etwas sagen, wen gar überzeugen, wenn ich die Ableitung nicht zwingend abzuleiten weiß? Sie hören eben ein Ergebnis dieser selbst auferlegten Verpflichtung. Sie entnehmen meiner Sicherheit, dass ich mehrfach nachgerechnet habe. Denn, und das hat der Professor auch getan, ich bedenke alle Möglichkeiten der Widerlegung allzeit mit. Der Professor hat diesen Jargon wahrscheinlich nicht beherrscht, aber ich sage Ihnen, ich habe den Pythagoras
drauf
. Schade, dass der Unterricht in Mathematik nicht bei dieser Formel geendet hat, ich hätte bald ein »Sehr gut« gehabt und behalten. Fairerweise teile ich Ihnen mit, mein Herr, der Sie mich zu interviewen sich gezwungen sehen, sei es meiner Meinung wegen, sei es aufgrund eines Auftrages Ihres vorgesetzten Redakteurs, dass meine späteren Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik, ich erwähne hier vor allem die Integralrechnung, kein Interview gerechtfertigt hätten. Aber ich bin befugt, Ihnen ultimativ mitzuteilen:
    Hass zum Quadrat + Sprache zum Quadrat = Totalitarismus zum Quadrat. Für Letzteren setze ich gerne den philosophischen Begriff ›Faschismus‹ ein.«
    Mit dieser Formel mündete der gedachte Text in den tatsächlich gesprochenen. Der Interviewer sah von einem Blatt auf. Er hatte sich ein paar Randnotizen gemacht.
    »Aber
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