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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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den Wald hinein. Er richtete sich einen Platz unter einer Linde ein und zog die Schriftrollen seiner Mutter hervor, um sie auf Beschwörungen von Göttern hin zu durchforschen. Sie hatte ihn alltägliche Gebete gelehrt, doch er fand, um den Kriegsgott selbst zu beschwören, bedurfte es etwas Stärkeren.
    Schließlich fand er, was er suchte. Es dauerte eine Weile, bis er genügend trockene Zweige und Laub zusammengetragen hatte, und noch beträchtlich länger, um ein Opfertier zu fangen; am Ende traf es eine fette Drossel, die er mit seiner Steinschleuder erlegte.
    Es war eigenartig, einem Tier die Kehle aufzuschneiden, ohne es als Mahl schlachten zu wollen, selbst wenn es nach dem Steinschlag an seinem Kopf vermutlich schon tot war. Das Blut spritzte ihm auf die Finger, und er zuckte unwillkürlich zusammen. Dann brauchte er eine Ewigkeit, um mit zwei Holzstäbchen das Feuer in Gang zu bringen, obwohl er das viele Male schon getan hatte; vermutlich lag es daran, daß seine Finger von dem Blut des Vogels so glitschig waren. Einmal quetschte er sich und steckte unwillkürlich den verletzten Finger in den Mund. Es schmeckte widerlich.
    Als das Feuer endlich brannte, schöpfte er tief Atem und begann, stockend und doch von einer verzweifelten Hoffnung beseelt: »Laran, du gehörst zu den zwölf, die herrschen. Ich bin einer, der fleht. Höre mich, denn ich komme in Glauben. Höre mich, denn ich komme in Demut. Höre mich, denn ich komme in Zorn. Laß nicht zu, daß meine Feinde die Meinen vernichten. Vernichte meine Feinde.«
    Er hielt inne, denn ihm wurde bewußt, daß Laran der Tusci-Name des Kriegsgottes war und bei einer Beschwörung, die sich gegen die Tusci richtete, vielleicht mehr schadete als nützte. Doch die Latiner hatten keinen Kriegsgott. Es gab allerdings den Feldgott, der neben Pflügen auch die Waffen der Verteidiger des Dorfes segnete, und so beschloß Romulus, seinen Namen zu wählen, um den Gott des Krieges anzusprechen.
    »Mars«, rief er, »Mars, mein Vater, erhöre mich!«
    Das Wort Vater hallte in seinem Herzen wider, und wie ein Echo begleitete es das Wort Verräter. Remus würde so etwas nie tun. Für ihn würde Faustulus immer der Vater sein, und nie würde er einem anderen diese Anrede schenken. Kein Wunder, daß Remus der Lieblingssohn war. Remus war treu, Remus war stark, er ließ sich nicht von fremder Magie einfangen, er wäre jetzt schon längst in Alba und würde sich als Geisel anbieten, statt sich wie ein Feigling im Wald zu verkriechen und Beschwörungen nachzusagen, die ihm eine böse Hexe hinterlassen hatte.
    »Romulus!« rief jemand, und der in seiner Selbstanklage gefangene Junge brauchte eine Weile, bis er die Stimme erkannte. Dann drehte er sich um, vor Freude und Verzweiflung gleichermaßen sprachlos. Später sagte er sich, daß sich das Entscheidende, die Freilassung, lange vor seiner Beschwörung ereignet haben mußte, doch in diesem Moment geschah für ihn ein Wunder. Es war die Stimme von Faustulus, die ihn rief. Der Kriegsgott hatte sein Gebet erhört und ihm Faustulus zurückgegeben, weil sie die Wahrheit gesagt hatte, weil Romulus sein Sohn war, weil Romulus sich als sein Sohn bekannt hatte.
    »Vater«, rief er zurück, und von der Lüge in diesem Wort zu wissen, brach ihm, als er Faustulus erschöpft und staubig auf sich zukommen sah, mit den zwei kurzen Silben das Herz.

    Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte Faustulus, als sie gemeinsam Käse und Brot auf dem staubigen Tisch ihres Heimes vertilgten, »so etwas wird nicht wieder geschehen. Ich habe dem König geschworen, mein Weib sei fort, verschwunden, gemeinsam mit meinem Sohn. Und die anderen im Dorf haben den Kriegern auch nichts anderes erzählt. Er weiß nicht, daß es zwei Kinder gibt - woher auch? Er hat eine Weile darüber geschimpft, daß ich sie gehen ließ, weil ich ihm versprochen hatte, auf sie aufzupassen, aber dann hat er sich beruhigt und mich fortgeschickt.«
    »Es wird nicht wieder geschehen«, erklärte Romulus entschlossen, »weil wir von hier weggehen, bevor er sich die Sache wieder anders überlegt.«
    »Hier weggehen? Von meinem Land? Bist du von allen guten Geistern verlassen, Junge? Das ist unsere Heimat. Wir verlassen sie nicht.«
    Diese Worte erinnerten ihn an das, was Faustulus an jenem Tag zu ihr gesagt hatte, und sie erweckten auch die Worte, die sie ihm an den Kopf geschleudert hatte, wieder zum Leben. Gefängnis. Es sei ein Gefängnis hier, hatte sie behauptet. Zum ersten Mal

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