Die Söhne der Wölfin
ihres Verschwindens verbrannt, um wenigstens etwas von ihr zu vernichten. Die anderen las er wieder und wieder. Das war es, was sie in ihrer Zeit bei ihnen, als sie die Mutter und Gattin spielte, geschrieben hatte: ein Durcheinander aus Beobachtungen über Sternenkonstellationen und Vogelflüge, aus Bruchstücken von Geschichten und Erfahrungen fremder Völker und deren Auftrag und Vergänglichkeit, aus Rätseln, aus vielem, das er durch ihre Lehren als Bannsprüche und Flüche erkannte. Er verstand nur einiges davon, doch mit der Zeit würde er alles verstehen. Es war, das begriff er, ihr Abschiedsgeschenk an ihn, ein spöttischer Grundstein für das Gebäude seiner Rache an ihr, weil sie ihn für unfähig hielt, ihr jemals gleichzukommen. Sie täuschte sich. Er würde lernen, sie gut genug zu verstehen, um zu ergründen, was sie wirklich wollte, mehr als alles andere. Und wenn er es wußte, dann würde er es ihr zu Füßen legen, nur um es ihr im letzten Moment, wenn sie sich siegesgewiß bückte, um es aufzuheben, wieder wegzunehmen. Es wegzunehmen und sie ins Nichts zu stoßen, verachtet und allein, ganz und gar allein.
Er träumte von diesem Moment fast jede Nacht, seit sie fort war. Selbst in der Nacht, als ihn die Sorge um seinen verschwundenen Vater kaum schlafen ließ, träumte er in den kurzen Perioden des Dahindämmerns von seiner Mutter. Er träumte sich groß und stattlich, er träumte sie hilflos, er träumte sich immer wieder eine neue Todesart für sie und wachte immer wieder schweißgebadet auf, um unwillkürlich nach der schützenden Hand seines Zwillingsbruder zu greifen, der fort war.
Im Laufe des nächsten Tages machte er sich grimmig daran, noch ein paar Sachen mehr zu packen, und fragte Pompilius, was er ihm für die Tiere, den Stall und das Haus geben würde. Pompilius lachte ihn aus.
»Immer mit der Ruhe, Kleiner«, meinte er begütigend, als Romulus aufbrauste. »Die Krieger haben gesagt, der König wolle mit deinem Vater reden, mehr nicht. Im übrigen bist du wohl kaum berechtigt, euer Hab und Gut zu verhökern.«
Nein, dachte Romulus höhnisch, weil du vermutlich vorhast, es dir einfach zu nehmen, wenn der Vater nicht wiederkommt. Wer könnte dich daran hindern ?
Eigentum, las er in der Schrift seiner Mutter. Recht des Eigentums: bei den Latinern wie bei den Griechen nur Recht des Mannes. Stirbt er, so verwaltet es der nächste männliche Verwandte für seine Witwe, Schwester, Tochter. Sogar für seinen Sohn, solange der Sohn noch als Kind gilt . Kein Rechtseinspruch möglich. Dagegen bei den Ägyptern: Die Frau kann Eigentum in eigenem Namen besitzen. Sie kann vor Gericht gehen. Bei Tod des Mannes entfällt auf sie ein Drittel, auf die Kinder zwei Drittel des Eigentums, es sei denn, ihr Mann hat sie adoptiert und sie gilt somit rechtlich als Ehefrau und Tochter zugleich. Eigentum bei den Rasna: Kinder erben Grund und Recht. Klage vor dem König ist möglich. Keine Scheidung wie bei den Ägyptern.
Die Ägypter hatten Königinnen in ihrer Geschichte.
Der letzte Satz stand in keinem Zusammenhang mit dem Rest der Notiz, und es gab auch sonst manche Begriffe, die ihm fremd waren - Scheidung, Rechtseinspruch, verwaltet -, aber soviel schien aus all dem hervorzugehen: Es gab ohne den Vater niemanden, der dafür sorgte, daß sich nicht Pompilius oder ein anderer ihr Hab und Gut einfach nehmen konnte, niemanden, der dagegen einschreiten würde. Sein »nächster männlicher Verwandter« war vermutlich der Onkel seiner Mutter, der den Vater gefangengenommen hatte, oder Larentias Vater, der, wie man hörte, als geduldeter Gast halb taub und schwach in Tarchna saß. Ein Gedanke traf ihn wie einer ihrer Blitze und ließ ihn nicht mehr los: Wenn sie die Wahrheit gesagt hatte, dann war sein nächster männlicher Verwandter der Kriegsgott selbst.
Romulus hatte es bisher nach Möglichkeit vermieden, über diesen Punkt nachzugrübeln. Er hatte immer nur Faustulus’ Sohn sein wollen. Doch er mußte zugeben, er hatte es immer in sich gespürt, das andere. Was, wenn die übrigen Kinder ihn nicht deshalb so herablassend behandelt hatten, weil er nicht so stark oder tapfer war wie sein Bruder, sondern weil sie zu dumm waren, um einen Halbgott zu verstehen?
Es war eine verlockende Vorstellung, und sie ging ihm auf Schritt und Tritt nach, während er seine alltäglichen Aufgaben erledigte und die Tiere versorgte. Erneut trieb er, diesmal mit einem sorgfältig gepackten Bündel versehen, die Schweine in
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