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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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erlebt, aber dieses laute, hoffnungslose Schluchzen hatte er nur einmal gehört, und wie in der Nacht, die ihrer Auspeitschung gefolgt war, legte er seine Arme um sie, nachdem er vorsichtig ihre Handgelenke freigegeben hatte, und versuchte, ihr einen festen Punkt in der Wirklichkeit zu geben, um sie zurückzuholen.
    »Ilian«, sagte er beschwörend in ihrer eigenen Sprache und ohne sich weiter um den Hohepriester zu kümmern, »du kannst alles ändern, was es auch ist. Du kannst alles tun, was du willst, das weißt du doch.«
    »Du würdest das zulassen, Fasti?« stieß sie hervor. »Drei Arten, und die dritte verändert und vernichtet Mensch und Gemeinwesen. Nein! Nein!«
    »Was sagt...«, begann Neter-Nacht, doch Ulsna ignorierte ihn.
    »Warum tust du mir das an?« schrie Ilian und verfiel erneut in ihr haltloses, verzweifeltes Schluchzen. Er spürte ihre Fäuste auf seinem Rücken, aber er ließ sie nicht los.
    »Kann nicht mehr«, stöhnte sie, »meine Schuld, aber ich kann es nicht aufgeben, sonst war alles sinnlos, es muß doch am Ende einen Sinn haben!«
    »Den hat es. Komm zurück zu mir«, sagte Ulsna eindringlich, und einen Moment lang hatte er den Eindruck, daß sie ihn mit ihren unnatürlich hell glänzenden Augen tatsächlich wahrnahm. Dann packte ihn Neter-Nacht von hinten an der Schulter. Für einen alten Mann hatte der Hohepriester einen erstaunlich festen Griff.
    »Wenn du nicht übersetzt, Bursche, bist du nutzlos«, knurrte er und wandte sich Ilian zu.
    »Werden die Götter uns während der drei Wellen zur Seite stehen?«
    »Vereinigung«, sagte sie auf ägyptisch und wiederholte es auf griechisch. »Isis ist Aphrodite ist Turan. Die Mutter, die Geliebte, die grausamste der Schicksalsgöttinnen. Amon-Re ist Apollon ist Aplu. Die Sonne, aber nicht der Vater. Wacht, aber herrscht nicht.«
    »Wer ist der Vater?« fragte Neter-Nacht gebannt, nachdem Ulsna widerwillig übersetzt hatte. »Wenn sich unsere Götter mit denen der Fremden verschmelzen, wer herrscht dann als Vater, wenn Amon-Re es nicht tut?«
    Ulsnas eigener Meinung nach begriff Neter-Nacht nicht, wovon überhaupt die Rede war. Es hatte nichts mit Ägypten zu tun oder den ägyptischen Göttern. Aber was er selbst aus Ilians Worten schloß, ging den Hohepriester nichts an. Außerdem befürchtete Ulsna, daß Neter-Nacht imstande wäre, Ilian Schlimmeres anzutun, wenn er bemerkte, daß das, was auch immer er ihr eingeflößt hatte, bei Ilian nicht seine Götter zum Sprechen brachte. Insofern war es gut, daß Neter-Nacht aus Ilians Worten nur heraushörte, was er offenbar hören wollte.
    »Horus ist der Sohn«, murmelte Ilian, »aber der Sohn hat sein Schicksal, er kann nicht bleiben, er muß sich verwandeln. Laran, Ares, der Krieg. Der Krieg ist der Vater. Seth. Chaos und Zerstörung, das ist richtig, aber gebannt durch die Göttin. Der Gott und die Göttin, Geburt und Zerstörung, Liebe und Tod.«
    Neter-Nacht ließ sich auf seine Fußsohlen zurücksinken. »Das Hohe Paar, natürlich«, flüsterte er. »Aber nicht Seth. Gewiß nicht Seth. Osiris! Nicht Seth.«
    Mit einem Ruck wandte Ilian ihm den Kopf zu. Mit ihrem irrlichternden Blick, dem tränenfeuchten, aufgeschwollenen Gesicht und dem losen Haar sah sie für Ulsna zum ersten Mal tatsächlich wie die Wahnsinnige aus, für die andere Menschen sie hin und wieder gehalten hatten, und ohnmächtiger Zorn erfaßte ihn bei der Vorstellung, daß Neter-Nacht sie in dieses Schicksal hineingetrieben hatte, nur um Götter zu befragen, die ihn ganz offensichtlich nicht mehr hören wollten.
    »Osiris ist tot«, sagte sie scharf. »König und Opfer. Beides zugleich. Noch einmal, um die Verweigerung aufzuheben, und dann ist der Kreislauf gebrochen.«
    Nun war es an Neter-Nacht, sich die Augen zu bedecken. »So soll es geschehen«, wisperte er rauh und erhob sich mühsam.
    »Halt! Warte! Herr«, sagte Ulsna mühsam beherrscht, »nun, da du deine Antworten hast, wirst du sie doch gewiß zurückholen.«
    Neter-Nacht warf noch einen kurzen Blick auf Ilian. »Wenn die Götter es wollen, wird sie sich wieder erholen«, entgegnete er müde. »Wenn nicht, so sei versichert, daß ich mein Versprechen ihr gegenüber halten werde. Die Abschriften werden gemacht.«
    Damit verschwand er. Ulsna blieb mit Ilian im Halbdunkel zurück und wünschte alle Priester, ägyptische wie griechische, während eines Sandsturms in die Wüste. Und die der Rasna ebenso, wenn er daran dachte, was sie mit seinesgleichen machten und daß

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