Die Söhne der Wölfin
ist vorbei. Was die Assyrer betrifft: auch ihnen fehlt die Geduld. Sie kommen, sie gehen. Blitzartig zuschlagen, das können sie, doch Aufbau und Verwaltung ist ihnen gleich, das überlassen sie anderen.«
»Psammetich hat gefrevelt«, sagte sie zögernd, »doch wenn er sein Leben der Erneuerung Ägyptens widmet, bringt er es dann nicht auf diese Weise als Opfer, um den Frevel zu sühnen?«
Mißbilligend stieß Neter-Nacht den Stock, auf den er sich stützte, auf den Boden.
»Psammetich«, gab er hart zurück, »hat seinen eigenen Ruhm im Kopf. Auch Leben kann ein Opfer sein, ja, aber nur für die Selbstlosen. Die einzige Art, wie jener sich opfern könnte, wäre die alte, blutige, und das verbietet die Vernunft.« Etwas milder fügte er hinzu: »Und hier siehst du unser aller Makel. Die Alten besaßen Gewißheit im Glauben, und die Götter sprachen direkt zu ihnen. Wir suchen nach Sinn und können nicht auf unseren Verstand verzichten, wenn wir etwas bedenken. Ob falsch oder richtig, es entfernt uns von den Göttern.« Nachdenklich fixierte er sie. »Das frage ich mich jedesmal, wenn ich dich sehe, Kind des Westens. Du trägst beides in dir, doch wem vertraust du mehr - deinem Glauben oder deinem Verstand?«
Zum ersten Mal, seit er sie kannte, wich sie seinem Blick auf eine Art aus, die mit Bescheidenheit nichts zu tun hatte.
»Ich wurde einmal auf die Probe gestellt«, entgegnete sie schließlich. »Wenn mein Glaube damals genügt hätte, wäre ich heute wohl nicht hier. Seither jedoch ist viel geschehen. Oft hatte ich nur meinen Glauben, um mir die Kraft zu geben, meinen Weg weiterzugehen, und ich spürte die Macht der Götter in mir. Doch ohne meinen Verstand hätte ich sie nicht einsetzen können. In mir hat sich beides ineinander verschlungen, Herr, und ich kann es nicht mehr trennen.«
Ihm kam ein Gedanke. »Dann magst du wohl der Weg sein, um die Zeichen für diese neue Zeit zu deuten«, sagte er. »Sieh es als eine neue Probe an. Wärst du bereit, den Weg zu gehen?«
Jäh schaute sie wieder zu ihm auf. Er hatte sie gelehrt, die Sterne zu deuten, und sich von ihr die Geheimnisse, die ihr Volk den Blitzen entnahm, erklären lassen - nicht, daß es viele Gewitter gegeben hätte, um diese Kunde anzuwenden. Die Kunst, Tierinnereien zu deuten, so stellte sich heraus, ähnelte sich bei ihren beiden Völkern durchaus. Die Geschichte gemeinsam zu betrachten, die hier an jeder Wand, an jeder Säule, auf jedem Obelisk erzählt wurde, ergab gelegentlich durch ihren Außenseiterblickwinkel höchst aufschlußreiche Einsichten. Doch etwas hatte er nie mit ihr geteilt; den Ritus, dem sich für gewöhnlich nur Hohepriester, die Gottesgemahlin und der Einzig-Eine vor seiner Krönung unterzogen und der ebenfalls Einblick in die Zukunft gewährte.
»Herr«, gab sie gedehnt zurück, »da du in deiner Weisheit mir den Weg bisher vorenthalten hast, war ich auf den Klatsch von weniger Wissenden angewiesen, doch sag mir, stimmt es nicht, daß der Trank, den man dabei einnimmt, manchen Unglücklichen für immer verwirrt statt erkenntnisreich zurückläßt?«
»Beides läßt sich oft nicht unterscheiden«, seufzte Neter-Nacht und wartete geduldig, bis sie wieder sprach.
»Ich bin bereit, den Weg zu gehen und die Zeichen der neuen Zeit für dich zu deuten, doch vergib mir als der groben Fremden, die ich bin, wenn ich eine Bedingung stelle.«
»Auch das ist die neue Zeit«, entgegnete Neter-Nacht und musterte die Decke, auf die einst kunstvoll die Göttin Nut gemalt worden war, wie sie den Sternenhimmel hielt. Nunmehr war dank der Assyrer das klare Antlitz der Göttin verschmiert. »Niemand tut mehr etwas nur aus dem Glauben heraus, selbst die Diener der Götter nicht.«
»All das, was du mich gelehrt hast, ist wie ein Schatz, den ich im Herzen trage, und ich weiß, es ist nur ein Bruchteil deiner eigenen Weisheit und des Wissens, das sich in diesem Tempel befindet. Sollte es um die beiden Länder in der neuen Zeit wirklich nicht gut bestellt sein, mag es sein, daß die Welt dieses Wissen verliert, und das wäre furchtbar. Die Zeit der Griechen dagegen ist gerade erst angebrochen, und sie ehren die Weisheit dieses Landes. Wenn ich den Weg gehe, Herr, dann versprich mir, daß du Abschriften aller Dokumente des Tempels erstellen läßt, und ich schwöre dir, sie werden einen würdigen Platz finden.«
»Aller Dokumente?« fragte er langsam. »Aber das würde Jahre dauern.«
»Sie müssen auch nicht sofort alle an ihren
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