Die Söhne der Wölfin
taten sie es nicht. Statt dessen ruderten sie in eisigem Schweigen, dem gleichen Schweigen, das sich über alle Einwohner von Theben gelegt hatte. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem Psammetich ihn zunächst bei sich hatte behalten wollen, auch nur der Wunsch gewesen, diesen erstickenden Wall des Schweigens zu brechen.
Im Tempel, der alles in allem wesentlich unversehrter als das Große Haus aussah, blieb Ulsna wenig Zeit, um einmal mehr das Wunder seiner Gestalt zu würdigen. Nachdem er seine Sandalen ausgezogen hatte, wurde er rasch tief ins Innere geführt, weiter, als man ihn bisher je vorgelassen hatte. Schließlich endete der Gang in einer Kammer. Den alten Mann, der dort auf dem Boden saß, erkannte er nach einigem Überlegen als den Priester Neter-Nacht, den Ilian als Lehrer hatte gewinnen können. Wie immer beim Anblick eines ägyptischen Priesters lief ihm ein kurzer Schauder über den Rücken. Viele Ägypter rasierten sich den Kopf, und die höher gestellten, die er kannte, ließen sich auch die Behaarung unter den Achseln und auf der Brust entfernen, was sein eigenes Aussehen ebenfalls normaler machte. Doch die Priester durften ihre Tempel nur völlig enthaart betreten, und so fehlten Neter-Nacht auch die Augenbrauen, was sein altes, faltiges Gesicht wie eine ausgedörrte Pflaume wirken ließ. Daß er die Stirn runzelte, verstärkte den Eindruck noch.
»Bist du endlich hier«, sagte er ungnädig und wies in eine Ecke des Raumes. »Übersetze mir, was sie spricht!«
Ulsna folgte dem ausgestreckten Finger und konnte einen bestürzten Ausruf nicht unterdrücken. Dort saß, zusammengekauert wie ein kleines Kind und am ganzen Leib zitternd, Ilian. So hatte er sie nur während ihres Fiebers erlebt, damals, als sie in Proknes Haus gelebt hatten.
»Was hast du... was ist mit ihr geschehen, Herr?« verbesserte er sich gerade noch rechtzeitig, während er rasch zu Ilian lief und neben ihr niederkniete. Er zog die Hände fort, die sie auf ihr Gesicht gepreßt hielt. Trotz der schwachen Beleuchtung, die in diesem Raum ohne Fenster nur von einer Öllampe verbreitet wurde, erkannte er, daß ihre Pupillen nicht geweitet, sondern winzig klein waren, als er versuchte, ihren Blick einzufangen. Sie schien ihn nicht zu sehen. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich.
»Sie geht den Weg«, gab Neter-Nacht knapp zurück. »Die Götter sprechen aus ihr, aber unsere Sprache hat sie verloren. Nun übersetze!«
Ulsna stellte fest, daß ihre Hände trotz der Hitze eiskalt waren. Neter-Nacht mußte ihr irgend etwas angetan haben. Er hatte Ilian bei allen nur denkbaren Gelegenheiten erlebt, und sie benahm sich ansonsten nie so. Entweder hatte der alte Priester einen Fluch über sie gelegt, oder er hatte ihr irgend etwas eingeflößt. Wie dem auch sein mochte, Neter-Nacht war vermutlich auch der einzige, der ihr wieder aus diesem Zustand heraushelfen konnte, und daher war es angebracht, ihm zu gehorchen. Ulsna konzentrierte sich und machte nach einer Weile tatsächlich einzelne Wörter aus. Es war nicht die Sprache der Rasna, die Ilian sprach, jedenfalls nicht nur. Es war ein Gemisch aus ihrer Muttersprache, aus griechischen und ägyptischen Ausdrücken und sogar einigen Wendungen der Latiner.
»Der Baum wird verdorren«, übersetzte Ulsna nach einer Weile zweifelnd. »Nur wenige Sprossen, und er wird verdorren. Auf Blut gepflanzt, kann er nicht lange leben.«
»Ich wußte es«, sagte Neter-Nacht, für den das Ganze offenbar einen Sinn ergab, resignierend. »Und danach? Danach?« wiederholte er noch einmal, lauter. »Was kommt dann über Ägypten?«
»Drei Wellen«, verkündete Ilian auf einmal klar, deutlich und in ägyptischer Sprache. »Drei Wellen, ehe die Welt endet und neu geboren wird.«
Dann starrte sie auf ihre Hände, die Ulsna immer noch festhielt, und machte sich so heftig los, daß einer ihrer Nägel seine Haut aufriß. Als er unwillkürlich heftig Atem holte, begann sie, auf ihren Bauch einzuschlagen, bis er ihre Handgelenke wieder einfangen konnte.
»So hat alles angefangen«, sagte sie, wieder in ihr Sprachdurcheinander verfallend, »und jetzt ist es zu spät, und ich kann es nicht mehr aufhalten!« Sie brach in Tränen aus.
»Was sagt sie?« forderte Neter-Nacht, und Ulsna wiederholte nur: »Es ist zu spät, und ich kann es nicht mehr aufhalten.«
»Ah!« rief Neter-Nacht und klang zugleich bestürzt und zufrieden.
Ulsna wünschte ihn in den Magen eines Nilpferds. Er hatte Ilian ein paarmal weinend
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