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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Bestimmungsort. Ich werde dich einmal im Jahr aufsuchen und immer einen Teil mit mir nehmen.«
    »Und wenn der Weg, was ich nicht hoffe, dich in einem Zustand zurückläßt, der dir nichts dergleichen erlaubt?«
    »Dann, Herr, vertraue ich deinem Wort und weiß, auch du wünschst, daß die Weisheit Ägyptens der Welt erhalten bleibt. Du wirst die Abschriften durch meinen Freund Ulsna an ihren Bestimmungsort senden können.«
    Er betrachtete ihr ernstes, furchtloses Gesicht und wünschte sich, sie wäre als Tochter beider Länder geboren.
    »Die Griechen, hm? Nicht dein eigenes Volk?«
    »Auch auf mein Volk kommen schwere Zeiten zu. Die Griechen haben bereits einen Ort, der so sicher ist, wie es in dieser Welt nur möglich sein kann, und sie haben eine Schrift, die wir von ihnen erlernten.«
    »Und für Psammetich stellst du keine Bedingungen?« fragte er prüfend.
    Sie neigte den Kopf zur Seite. »Nein.«
    »Dann bereite dich auf den Weg vor«, sagte Neter-Nacht entschlossen, »und ich werde überprüfen, ob unsere Vorratskammer trotz unliebsamer Eindringlinge noch die nötigen Ingredienzen enthält. Geh in die Kammer vor dem Allerheiligsten und reinige dein Herz. Wir werden die Götter durch den Weg befragen, und was auch geschieht, ich verspreche dir, ich werde deine Abschriften erstellen lassen.«
    Außer ihr kannte er keine Fremden, die sich die Mühe gemacht hatten, die alte Schrift zu erlernen; sie würden nichts entziffern können, es sei denn, sie zeigten ähnlichen Lerneifer wie Ilian, und dann hätten sie es verdient. Außerdem machte er sich in der Tat Sorgen, daß die Blasphemie der letzten Tage nur ein Vorspiel gewesen sein könnte und der Tag kommen mochte, an dem selbst in den Hallen von Karnak nichts mehr sicher war. Es gab Dinge, die nicht aus der Welt verschwinden durften.
    Ilian nickte, doch ehe sie aus seinem Blickfeld verschwand, drehte sie sich noch einmal um.
    »Herr, warum nennst du mich Kind des Westens? Verzeih, wenn ich anmaßend klinge, doch liegt meine Heimat von hier aus gesehen nicht eher im Norden?«
    »Du weißt, was im Westen liegt«, gab Neter-Nacht ohne Kränkung, doch mit einer gewissen Härte zurück. »Der Westen ist das Reich von Seth. Chaos und Zerstörung, wie alles Fremde, kommen aus dem Westen.«

    Wenn Psammetich in den vergangenen Jahren etwas über Musik gelernt hatte, dann das: Barden, die vortrugen und erzählten, wurden dabei auch durstig und hungrig. Ulsna stellte beeindruckt fest, daß für ihn sogar Bier bereitgestellt wurde, was zeigte, daß Psammetich sich an seine Vorliebe für dieses Getränk erinnerte, und das hätte er noch nicht einmal in friedlichen Zeiten erwartet; angesichts der momentanen Lage grenzte es an ein Wunder.
    Sein eigenes Gedächtnis nach dem Geschmack des Königs hinsichtlich von Musik und Geschichten zu durchforschen fiel Ulsna nicht weiter schwer; letztendlich hing das Wohlwollen, das Barden entgegengebracht wurde, von derlei Beobachtungen ab. Er steckte gerade in einer dramatischen Wiedergabe des Kampfes zwischen Hektor und Achilles, den er schon vor geraumer Zeit in die Landessprache übersetzt hatte, als einer der königlichen Leibwächter kam und Psammetich mit kaum verhohlener Aufregung ankündigte, das Orakel Amons ersuche den Einzig-Einen, ihnen den Barden Ulsna zu schicken.

Psammetich sog nachdenklich die Unterlippe ein, eine Geste, die bei dem Jungen trotzig gewirkt hatte, doch bei dem Mann die Unbeweglichkeit seiner Miene unterstrich. Insgeheim war Ulsna bereit zu wetten, daß dies die erste Gelegenheit seit dem Fall von Theben darstellte, bei der das Orakel Psammetich eine Botschaft geschickt hatte statt umgekehrt, und dies auch noch in respektvoller Form, die seinen Titel benutzte. Es sah nach einem guten Omen aus, doch selbst Ulsna konnte sich keinen anderen Grund für diesen Wunsch vorstellen, als daß Ilian ihn aus Psammetichs unmittelbarer Reichweite entfernen wollte. Was lächerlich war. Psammetich hielt die gesamte Stadt in seiner Gewalt, und ohne seine Billigung kam niemand mehr fort von hier.
    Offenbar folgte Psammetich dem gleichen Gedankengang, denn er nickte schließlich und bedeutete Ulsna, es sei ihm gestattet, dem Tempelboten zu folgen.
    Auf die andere Seite des Nils überzusetzen, wo sich die Tempelanlagen befanden, führte Ulsna wieder die belastende Wirklichkeit vor Augen. Seiner Erfahrung nach unterließen es die Fährleute bei solchen Gelegenheiten nie, zu fluchen und über ihr Los zu klagen; nur diesmal

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