Die Söhne der Wölfin
treffen, etwas aus der Gegenwart oder der Zukunft, nicht aus der Vergangenheit. Da Du derzeit Deine Gegenwart, wie ich von Remus höre, immer noch mit den Schweinen teilst, und bedauerlicherweise noch nicht einmal mehr eigenen, wird es nicht einfach sein, doch ich habe Vertrauen in Deine Fähigkeiten, mein Sohn.
Schließlich teilen wir zumindest unsere Träume. Oder wußtest Du das nicht?
Ilian.
IV
KÖNIG UND OPFER
Moströllchen gehörten zu den Speisen, die Prokne ohne allzu schlechtes Gewissen zu sich nehmen konnte. Moströllchen aus Weizenmehl, gesättigt in Schafskäse und jungem Wein, durchsetzt mit Anis und Kümmel und versehen mit einem Lorbeerblatt, das gerade den rechten Hauch Bitterkeit hinzufügte. Sie nahm eines von ihnen mit den Fingerspitzen von der flachen Schale, in der sie ihre Dienerin hergetragen hatte, und biß hinein, nur ein winziges Stück, denn allzu ausgiebige Kaubewegungen wirkten häßlich, und sie hatte einen Gast.
Nachdenklich lehnte sie sich auf ihrer Liege zurück und betrachtete den Jungen. Er mußte jetzt vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, und seine Anspannung in ihrer Gegenwart hinderte ihn nicht daran, einem gesunden Appetit zu frönen. Die Schale mit den Moströllchen stand zwischen ihnen, und er hielt bereits das dritte in den Händen, während sie noch an dem ersten knabberte. Prokne unterdrückte ein Aufseufzen. Gewiß, Ilian hatte dafür gesorgt, daß er die Erziehung eines griechischen Edlen erhielt, und sie hatte ihn auf einigen ihrer Reisen mitgeschleppt, auf denen er, wie man annehmen mußte, noch mehr gelernt hatte. Aber er aß immer noch wie ein Bauernlümmel.
Es kam ihr in den Sinn, daß der Junge nun in etwa so alt war wie Ilian, als sie ihr zum ersten Mal begegnete. Zuerst wollte sie den Gedanken unwillig wegschieben, doch dann beschloß sie, sich ihm zu stellen. Ilian war kein Mädchen mehr und noch nicht ganz eine Frau gewesen; ihr Sohn hingegen war trotz seiner großgewachsenen Gestalt eindeutig noch ein Knabe. Nicht, daß die Gestalt nicht eindrucksvoll war: breite Schultern, schmale Hüften und muskulöse Arme, die verrieten, daß sich all das Wetteifern mit den anderen Jugendlichen gelohnt hatte. Dazu kam ein durchaus ansprechendes Gesicht: eine offene, klare Stirn, ein heller und freundlicher Blick und ein vielversprechender Mund. Nein, ihre Aufgabe würde kein Opfer werden. Aber was dem Jungen fehlte, war die Intensität seiner Mutter. Er wirkte liebenswert, nicht unvergeßlich.
»Wie«, fragte Prokne in ihrem gewinnendsten Tonfall, »hat dir Ägypten gefallen, Remus?«
»Besser als Korkyra oder Delphi«, erwiderte er offen, als sein Mund wieder leer war. »Ich dachte schon, meine Mutter würde mich nie dorthin mitnehmen. Es war großartig. Der König hat die besten Pferde, die ich je reiten durfte. Und man begreift gar nicht, was es heißt, einen Streitwagen zu lenken, ehe man nicht diese Pferde davorgespannt hat. Oder mit ihnen Gazellen jagt. Und die Entenjagd auf dem Nil, das war auch unglaublich. Das Wurfholz richtig zu schleudern, den Wind und den Winkel genau zu erfassen...«
Obwohl es sie langweilte, hörte Prokne so aufmerksam zu, als verrate er ihr die Geheimnisse des Lebens. Es war eine der ersten Tugenden, die eine erfolgreiche Hetäre zu lernen hatte: gut zuzuhören und dem Sprecher das Gefühl zu geben, jedes Wort von seinen Lippen sei eine Kostbarkeit. Sie hatte nur nie geglaubt, diese Kunst bei Ilians Sohn anwenden zu müssen.
Als Ilian ihr zum ersten Mal davon gesprochen hatte, war sie in schallendes Gelächter ausgebrochen.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Es ist mein Ernst, spätestens seit der edle Diogenes Ulsna gefragt hat, ob wir schon einen erastes für meinen Sohn im Auge hätten.«
»Nun, das ist der Gang der Welt. Natürlich kommt dein Sohn jetzt in das Alter, wo man ihn als eromenos in Betracht zieht. Ich will nicht hoffen, daß du immer noch deinen barbarischen Vorurteilen anhängst.«
Ilian hatte ungeduldig den Kopf geschüttelt. »Das hat damit nichts zu tun. Du kennst meine Heimat nicht, aber glaub mir, Liebhaber von Männern haben dort kein Ansehen. Und wir werden bald zurückkehren.«
Prokne bezweifelte, daß Ilian dem Jungen gegenüber ähnlich offen gewesen war, ja sie ging davon aus, daß Remus noch nicht einmal wußte, warum er eigentlich hier war, und fühlte sich in ihrer Ansicht bestätigt, als er seinen Bericht mit den Worten abschloß:
»Ganz ehrlich, Herrin, es wundert mich, daß du
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