Die Somalia-Doktrin (German Edition)
ihm seinen Plan, dann legte er auf. Er steckte sich eine weitere Zigarette an und legte den Kopf zurück.
Das Piepsen des Telefons ließ Harry aufwachen. Er warf einen Blick auf seine Uhr: 7.14. Ihm brummte der Schädel und sein Mund war wie ausgedörrt. Es war eine Textmessage von Michael.
Er ist am Flughafen. Falscher Pass. Ziel Mog via Nairobi. Aufhalten?
Harry überlegte einen Augenblick. Dann textete er zurück:
Lass ihn gehen. Krieg ihn in Mog.
Jenny bewegte sich. Sie lag noch immer auf dem Boden und versuchte sich von ihren Fesseln zu befreien. Harry baute sich über ihr auf. Ihre Augen blitzten ihn trotzig an. Er nahm ihre Wangen in die Hand und drückte.
»Wenn du jemandem was davon erzählst, spür ich dich auf und schlachte dich ab wie einen Hund. Ist das klar?«
Sie stöhnte.
Er beugte sich über ihr Gesicht. »Danke für gestern Abend. War richtig nett.«
Harry nahm seinen schwarzen Rucksack vom Sessel, sah nach seinem falschen Pass und warf sich den Sack über die Schulter. Er warf einen Blick auf Jenny, auf dem Boden, halb nackt. Vielleicht hätte er sie nicht so hart rannehmen sollen. Aber auf der anderen Seite hatte sie es verdient. Ob sie ihn nun verraten hatte oder nicht, spielte letztlich keine Rolle. Sie gehörte zu Edwards Haufen, also musste sie dafür bezahlen.
Sein Mobiltelefon piepste wieder:
Alles erledigt. Flugtickets liegen bereit.
Michael war ein guter Mann. Oder er hatte einfach nur Angst. Harry wusste über seine illegalen Geschäfte als Beamter der Einwanderungsbehörde Bescheid. Ein paar Anrufe, und der Mann fuhr ein. Und Michael wusste das.
Harry warf noch einen letzten Blick auf Jenny. Die Augen geschlossen, lag sie da. Täte er besser, sie gleich umzubringen? Er schüttelte den Kopf. Zu unsauber. Er ging zur Tür und hängte ein »Nicht stören«-Schild an den Knauf. An der Rezeption bezahlte er noch für eine weitere Nacht, um sicher zu gehen, dass man Jenny nicht fand, bevor er außer Landes und damit in Sicherheit war. Er ging hinüber zum Bahnhof Kings Cross und sah nach den Abfahrtzeiten nach Cambridge.
Er hatte noch jemandem einen Besuch abzustatten, bevor er nach Afrika zurückflog.
Kapitel 44
Indischer Ozean
27. September 2003
Die Lage auf dem Fischkutter verschlechterte sich zusehends. Wasser- und Lebensmittelvorräte waren knapp geworden und viele von den Passagieren erkrankt. Eine Schwangere war bereits gestorben. Die Besatzung hatte ihr und ihren Angehörigen für die Entbindung die Kabine überlassen. Einige Stunden später tauchte die Verwandtschaft blutbefleckt wieder auf. Die Leichen von Mutter und Kind warf man über Bord.
Abdi saß gegen die Bordwand gelehnt. Er streichelte Khalids Kopf, der auf der Seite liegend vor sich hinstarrte. Khalid war abgemagert und hatte kaum noch die Kraft zum Stehen. Sein elegantes Gesicht war eine aufgequollene Masse aus Blutergüssen, Rissen und Schorf. Seine Nase und sein linker Wangenknochen waren sichtlich gebrochen.
Wenigstens waren die Milizleute nicht hinter ihnen hergekommen. Nach einer Weile war der Hafen am Horizont verschwunden. Schiff war ihnen keines gefolgt. Wahrscheinlich gingen die Milizleute davon aus, dass sie alle umkommen würden, dass sie verhungerten, Schiffbruch erlitten oder Piraten sie überfielen. Als wollte man ihn daran erinnern, griff ein Krampf nach seinem Magen. Es war, als nage etwas an seinen Eingeweiden. Aber er wusste, es war nur der Hunger. Er kannte dieses Gefühl – mit Unterbrechungen – seit vielen Jahren.
Mit der Wucht von Rammböcken drangen die Erinnerungen auf Abdi ein: Horden von Milizleuten, die seine Familie abschlachteten; Haufen abgeschlagener Köpfe; Säuglinge, die man ihren Müttern entriss, um ihnen die Köpfe einzuschlagen. Seine Migräne erfasste seinen Kopf wie ein Schraubstock, dessen Backen man langsam schloss. Ein vertrautes Gefühl der Hilflosigkeit stellte sich ein. Er wusste, er sollte handeln, etwas tun. Es war die einzige Möglichkeit, diese Gedanken zu verdrängen. Und auch die Migräne, die mit ihnen kam. Er brauchte das Gefühl, sein Leben selbst in der Hand zu haben.
Sachte legte er den Kopf seines Sohnes auf das hölzerne Deck. Er ging zu Waabberi, dem Kapitän des Kutters, der gerade einige halb verrottete Planken festhämmerte.
»Wann gehen wir in Kenia an Land?«, fragte er.
»Sie lassen uns nicht.«
»Warum nicht.«
»Weil sie nicht noch mehr Flüchtlinge wollen.«
»Aber Sie haben doch gesagt, uns wird nichts passieren«, sagte
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