Die Somalia-Doktrin (German Edition)
an der Führungsspitze der NRO war das Beste, was ihm passieren konnte. Es zeigte Schwäche. Er war Harry zurück in sein Hotel gefolgt, hatte sich aber gegen eine Konfrontation entschieden. In London war das zu riskant. Wenn so etwas aus dem Ruder lief, hätte er sofort die Polizei am Hals. Und wo Interpol sich von ihm distanziert hatte und mit Harrys Kontakten allenthalben, hätte Jim nicht die geringste Chance, die wahre Situation zu erklären.
So oder so bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass Harry ihn bald aufgespürt hätte, was gut war. Jim wollte, dass Harry ihm folgte. Wenn Jim nur die beiden geflohenen Vertriebenen aufspüren könnte, bevor Harry sie fand, dann könnte er auf ihn warten, ihm eine Falle stellen. Die beiden zu finden, das war das Problem.
Auch die Einreise in Mogadishu war heikel. Harrys Leute würden dort bereitstehen. Ihnen zu entgehen, wäre problematisch, aber durchaus möglich. Maxine könnte helfen, falls sie hatte entkommen können. Aber konnte er ihr tatsächlich vertrauen? Einerseits wollte er ihr glauben; ihre Geschichte klang durchaus echt, und dass Harry sie in der Hand hatte und manipulierte, war nicht von der Hand zu weisen. Aber mit wem würde sie es halten, wenn es drauf ankam? Würde sie wieder in ihre alten Verhaltensweisen zurückfallen und wieder parieren? Oder würde sie sich für Jim entscheiden und den schwierigen Weg des Widerstands gegen UA?
In diesem Augenblick jedoch war sie seine einzige Spur. Er musste also Kontakt mit ihr aufnehmen. Aber wie?
Er sah sich um. Es gab einen Münzfernsprecher in der Ecke. Dann war da die Frau, die direkt vor ihm saß. Sie las ein Buch, ihre Handtasche stand weit geöffnet auf dem Boden und ihr rosa Mobiltelefon stak heraus. Jim tat, als wäre ihm der Pass auf den Boden gefallen, und nahm das Telefon an sich. Er schlenderte davon.
Jim schaltete das Telefon an. Der Akku war so gut wie leer und er hatte kein Ladegerät. Er würde es also umsichtig einsetzen müssen. Er schickte eine SMS an Maxines Nummer:
Bist du da? Jim.
Binnen weniger Sekunden piepste es. Mit einer Nervosität, die ihn überraschte, drückte Jim den »View«-Button. Er empfand mehr für diese Frau, als er sich eingestehen wollte.
Bin Harry entwischt. Verstecke mich in Nairobi.
Jim verspürte eine ungeheure Erleichterung, dann aber gleich einen Anflug von Zweifeln. Hatte sie wirklich entkommen können? Womöglich war es eine Falle. Er beschloss, der Nachricht zu trauen. Findig genug war Maxine allemal.
Er textete zurück:
Nehme nächste Maschine. Treffpunkt Airport Café. Kauf Ticket nach Mog für UN Flug.
Prompt kam die Antwort:
Ok!
Jim lächelte. Maxines Abenteuerlust war so ausgeprägt wie ihr leidenschaftliches Temperament. Was er aufregend fand. Aber es gab zwischen ihnen so vieles zu klären. Vielleicht ergäbe sich während der kommenden Tage eine Gelegenheit. Obwohl er es bezweifelte.
Er sah sich um. Die Frau mit dem Buch wühlte in ihrer Tasche. Er hatte ein schlechtes Gewissen, sie bestohlen zu haben, aber manchmal ging es eben nicht anders.
Elf Stunden später wartete Jim am Flughafen von Nairobi in einem Café auf Maxine. Sie war nirgendwo zu sehen. Sie antwortete weder auf Textnachrichten noch auf Anrufe. Der Akku seines Mobiltelefons war erschöpft. Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand: 23.12. Bis zu dem UN-Flug nach Mogadishu am frühen Morgen waren es noch ein paar Stunden hin.
Jims Blick wanderte hinüber zu dem Fernseher in der Ecke. BBC News zeigte wieder Bilder von Somaliland. Der Ton war abgestellt, aber es sah ganz so aus, als wäre es wieder zu einem Überfall auf ein Lager gekommen. Laut dem Ticker unter den Bildern hatte man Hunderte von Toten gefunden, darunter zwanzig Entwicklungshelfer aus einem entführten Konvoi. Man hatte sie allesamt massakriert. Das war also aus den Leuten geworden. Die Bilder von den aufeinander geworfenen Leichen waren besonders grausig. Die Journalistin war wieder diese Marie. In makellos gebügelter Bluse interviewte sie Edward Ostely, der wie ein ehemaliger Kolonialherr wirkte in seinem cremefarbenen Anzug und dem nach hinten gekämmten Haar.
Jim ging hinüber zu dem Apparat und stellte den Ton an. Passagiere an anderen Tischen funkelten ihn böse an, aber er ignorierte sie. Er setzte sich wieder.
Eben fragte Marie in dem für Reporter so typischen neutralen Ton: »Warum, denken Sie, greift die UNO nicht endlich ein?«
»Weil die UNO nicht länger taugt, wenn es um die Fürsorge für die
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