Die Sommerfrauen: Roman (German Edition)
ersten Mal ausblieb. Er schrieb mir ein paar Briefe, und ich schrieb ein Mal zurück, aber eigentlich waren wir ja noch Kinder. Er wollte, dass ich ihn besuche, aber ich musste ja zur Schule, und in meinem Fall war es auch so, dass die Entfernung die Sehnsucht nicht gerade größer machte. Ich habe ihm also nichts erzählt. Ich konnte es nicht mal vor mir selbst so richtig zugeben, schon gar nicht vor ihm. Ich habe alles verdrängt.«
Ellis strich sanft über Julias Schulter. »Ganz schön heftig, ein Geheimnis so lange für sich zu behalten. Weiß Booker Bescheid?«
»Nein«, sagte Julia bissig. »Ich hab doch gesagt, abgesehen von meiner Mutter wusste es keiner – na ja, diese Zicke Amber Peek, aber die hat es nur erfahren, weil ihre Cousine zufällig am selben Abend mit einem gebrochenen Handgelenk in der Notaufnahme war.«
»Willst du es ihm jetzt erzählen, da wir auch Bescheid wissen?«
Julia seufzte. »Wahrscheinlich. Die Sache mit der Schwangerschaft wird ihm nicht so viel ausmachen. Booker haut nicht viel vom Hocker. Die Sache ist, dass er Kinder will. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich welche bekommen kann.«
»Ach so«, sagte Ellis und riss die Augen auf. »Was sagt denn dein Frauenarzt dazu?«
»Ich habe nie richtig danach gefragt«, gab Julia zu. »Damals sagte man mir, viele Frauen bekämen nach einer Eileiterschwangerschaft noch Kinder, ein gesunder Eileiter ist ja noch da. Die ganzen Jahre war das eigentlich kein Thema. Ich war erfolgreich im Beruf, und ich hatte ja gesehen, wie meine Mutter vor lauter Kindern und Windeln kaum Luft holen konnte. Ich hab mir immer gesagt, dass mir so was nicht passieren würde.«
»Und jetzt?«
»Wer weiß?«, sagte Julia leichthin. »Auf jeden Fall gehe ich jetzt ins Bett. Nachti, Elly-Belly.«
Als Julia gegangen war, lief Ellis ziellos im Haus herum. Sie legte das Kartenspiel zurück ins Kästchen, schob die Stühle unter den Esszimmertisch, richtete die Sofakissen. Dann schaltete sie noch einmal den Fernseher an, aber es gab immer noch keinen Kabelempfang. Zum ersten Mal seit Stunden holte sie ihr Handy hervor und sah nach, ob sie E-Mails oder Anrufe in Abwesenheit hatte.
Nichts. Ein klein wenig hatte sie auf eine Nachricht von Mr Culpepper gehofft. Sie grinste bei dem Gedanken an sein letztes Schreiben. Und fragte sich wieder, wie alt Mr Culpepper wohl sein mochte.
Es war spät, fast Mitternacht, aber Ellis war sonderbar ruhelos. In den Regalen neben dem Kamin standen viele Bücher, sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Rücken: hauptsächlich Liebesromane, Krimis und Thriller. Ellis wählte ein zerfleddertes Taschenbuch von Kathleen Woodiwiss, »Wohin der Sturm uns trägt«, und musste bei der Erinnerung daran lächeln, wie sie zusammen mit Julia dieses Buch Julias Mutter stibitzt hatte. Wie alt waren sie damals gewesen, dreizehn? Sie hatten den Roman mitgenommen ins Bootshaus der Capellis, ihn im Licht einer Taschenlampe gelesen und bei den anzüglichen Stellen gekichert.
Ellis ging nach oben und zog ihren Pyjama an. Im Zimmer war es heiß und stickig. Sie schaltete den Deckenventilator ein und senkte die Temperatur am Thermostat der Klimaanlage im Fenster. Dann stieg sie ins Bett und knipste auf ihrem Nachttisch die altmodische weiße Glaslampe an. Der Lampenschirm war vergilbt und verstaubt, aber die Birne verbreitete ein müdes orangefarbenes Licht. Auch wenn das eigentlich egal war. Ellis war zu aufgedreht, um zu lesen. Sie schaltete das Licht aus und zwang sich zu schlafen.
Sie schloss die Augen und begann zu träumen. Sie befand sich auf der Säuglingsstation eines Krankenhauses, wo unzählige süße, rosige, knuffige Babys lagen. In ihrem Traum beugte sie sich über ein rosa Wägelchen und sah ein Kind mit Dories rotblondem Haar, ihren Sommersprossen und grünen Augen. Im nächsten Bettchen lag ein langes, schlankes Baby mit Julias hohen Wangenknochen und dunklen Mandelaugen. Daneben war der nächste Säugling mit vertrauten marmorblauen Augen, abstehenden Ohren und der typischen schmalen Oberlippe der Familie Greene zu bewundern. Der kleine Junge öffnete das Mündchen und schrie, oder besser kreischte, als Ellis sich über ihn beugte. Sie huschte schnell weiter, und im nächsten Bettchen sah sie das schönste Kind von allen, einen kleinen Jungen mit einem vollen Schopf dunkler Haare wie die ihrer Mutter und mit dem ruhigen Blick ihres Vaters. Das Baby nuckelte am Daumen, und als es die Traum-Ellis bemerkte, schaute es auf und
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