Die Sonate des Einhorns
wollender Alptraum aus Möwenflügeln, die ihr wild an den Kopf schlugen, übervollen gelben Kiefern, die nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt zuschnappten, und den entsetzlichen, leisen Todesschreien, die jedem donnernden Schlachtruf der Prinzessin Lisha folgten. Blind oder nicht, sie hielt den Perytonen stand, sprang ihnen immer und immer wieder entgegen, während ihr Horn einen todbringenden Kreis der Zuflucht um Joey herum schuf. Jedesmal, wenn sie zuschlug, oftmals zu schnell, als daß Joey es hätte sehen können, fiel wieder eine Handvoll dieser fliegenden Hirschtiere zerschmettert neben ihr nieder, aber es kamen immer mehr. Lisha schien unermüdlich, doch Joey sah, daß sie aus einer Reihe kleiner, häßlicher Wunden an Hals, Schultern und Flanken blutete. Joey hörte die kühle Stimme sagen: »Vielleicht solltest du doch zu den Bäumen laufen, meine Kleine. So habe ich sie noch nie erlebt.«
»Ich gehe nicht«, schluchzte Joey. »Niemals, ich lass’ dich nicht allein.« Ein Peryton glitt durch Prinzessin Lishas wirbelnde Deckung hindurch und wollte sich sogleich über Joeys Augen hermachen. Einen Augenblick lang sah Joey seine hübschen, braunen Augen, blutunterlaufen und glasig vor verzweifelter Gier, bis das Horn ihn beinah in zwei Teile schnitt und zur Seite warf. Das Einhorn sagte: »Ich kann dich vor den meisten schützen, wenn du jetzt gehst. Halte deinen Kopf unten und achte darauf, wohin du trittst. Du stolperst nur, wenn du dich umsiehst.«
Später fragte sich Joey oft, ob sie sich wohl der Prinzessin gefügt und sie allein gelassen hätte, und sie zog einigen Trost aus dem Umstand, daß sie noch keinen einzigen Schritt zur Flucht unternommen hatte, als sie hinter sich ein markerschütterndes Brüllen hörte. Ein großer Karkadann brach zwischen den Bäumen des Abendrotwaldes hervor, und die Erde bebte unter seinen Hufen, als er sich in die Schlacht stürzte. Seine roten Flanken flammten in der Morgensonne auf, er hatte Schaum vor dem Mund, und in seiner überwältigenden Blindheit sah er eher aus wie eine herrenlose Lokomotive als wie ein Einhorn.
Die Perytone sahen ihn kommen. Ein Wesen, ein Bewußtsein oder nicht, stiegen sie doch in einem mächtigen Wirbel der Verwirrung auf. Die eine Hälfte schien ihr Heil in der Flucht suchen zu wollen, während die andere offenbar zu ausgehungert war, als daß sie einem anderen Ratschlag als dem ihres Magens folgen konnte. Der Karkadann war schon mitten unter ihnen, und während sie noch schwankten, ragte er zwischen ihnen und der Prinzessin auf, mähte sie gnadenlos mit einem Horn nieder, das doppelt so lang war wie Lishas. Sie ertrugen es einen grauenvollen Moment lang, dann gaben sie sich geschlagen und flohen kreischend vor den beiden Einhörnern, die sie ein wenig verfolgten, bis sie stehenblieben und sich umwandten. Als sie Joey entgegentrotteten, rieben sie sich liebevoll aneinander, und Joey sah, daß der Karkadann, wenn er nicht gerade Lishas Wunden beschnupperte und leckte, in unbeholfenen Zickzackschritten um sie herum tanzte und wie ein kleiner Ziegenbock die Hufe schwang.
»Das ist Tamirao«, sagte Prinzessin Lisha fast scheu. Der Karkadann neigte den Kopf vor Joey, berührte leicht ihre Schulter mit seinem mächtigen Horn. Er hatte fliederfarbene Augen.
Joeys Armbanduhr war stehengeblieben, als sie die Grenze überschritten hatte, und obwohl sie schnell lernte, die Uhrzeit ziemlich genau am Stand der Sonne oder des Mondes festzumachen, oder am Geschmack der Luft, verlor diese Kunstfertigkeit rasch wieder an Bedeutung. Sie aß Früchte und Beeren, wenn sie hungrig war, schlief auf weichem Gras, wenn sie müde war, spielte mit Touriq und seinen Freunden, wenn sie Lust dazu hatte, suchte Schutz in den Höhlen der Satyrn, wenn es regnete, und brachte der Bach-Jalla bei, »Yellow Submarine« zu singen. Manchmal saß sie einen ganzen Tag oder eine ganze Nacht unter einem Baum, so bewegungslos wie einer der Ältesten, lauschte der Musik Shei’rahs. Sie versuchte nicht mehr, in ihre Nähe zu kommen oder ihre wahre Beziehung zu den Einhörnern zu verstehen, die in irgendeiner Weise die Quelle dieser Musik waren. Sie saß einfach nur da und lauschte den ganzen Tag, summte leise vor sich hin.
Ihre allerliebste Beschäftigung war es, Prinzessin Lisha und Tamirao zuzuschauen. Der mächtige Karkadann war ein schweigsames, schwerfälliges Wesen, wie alle seiner Art, doch durch seine Hingabe an Lisha wirkte er in Joeys Augen fast so still und
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