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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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geringste Zeichen gab, ließ sie los, und sie achtete stets darauf, daß sie mit ihrer Kraft und Schnelligkeit nicht Joeys Grenzen überschritt. Ohne Unterlaß planschten und kreischten sie zusammen, bis auf die stillen Momente, wenn sie einander unter Wasser suchten, und Touriq beobachtete sie vom Ufer aus, tat sich hin und wieder an dem dicken, gelben Moos gütlich, das dort zwischen den Steinen wuchs.
    Joey hatte keine Vorstellung davon, wie lange sie mit der Bach-Jalla zusammen geschwommen war. Als sie zu erschöpft war, um weiterzuspielen, ließ sie sich einfach im flachen Wasser fallen und ruhte sich aus. Die Bach-Jalla lag neben ihr, lächelte, atmete nicht einmal schwer, streckte eine Hand aus, um erst Joeys Brust zu berühren und dann ihre eigene. »Jetzt sind wir Schwestern«, sagte sie.
    Joey blinzelte. »Sind wir? Das ist gut. Ich wollte schon immer eine Schwester, und statt dessen habe ich nur diesen blöden kleinen Bruder Scott…«
    »Schwestern, du und ich«, wiederholte die Bach-Jalla. »Wenn du ein Problem hast, komm her und ruf nach mir.«
    »Gut, das werde ich tun«, antwortete Joey. »Und wenn du mich brauchst…« Sie hielt inne, erinnerte sich an die Füße der Bach-Jalla. »Na, wir sind Schwestern«, sagte sie. »Ich werde es einfach wissen.«
    »Ja«, sagte die Bach-Jalla. »Auf Wiedersehen.« Noch einmal berührte sie Joey und dann sich selbst, anschließend tauchte sie wieder in tieferes Wasser ab, versank ohne jede Welle. Joey saß lange da und starrte aufs Wasser.
    Sie hatte sich wieder angezogen und schüttelte noch ihr Haar trocken, als sie neben Touriq den Hügel hinabschritt. Sie näherten sich der Ebene, auf der die Einhörner um die Wette gelaufen waren, als Joey direkt vor ihnen das weiße Einhorn sah, das dort im Schatten eines großen Felsens stand. Selbst auf diese Entfernung erkannte sie seine Augen.
    »Indigo!« rief sie. »Indigo, warte!« Das weiße Einhorn zögerte, tat sogar einen Schritt nach vorn, fuhr dann jedoch herum und war mit zwei Sprüngen außer Sicht. Joey wollte ihm schon etwas nachrufen, ließ es jedoch. Sie legte einen Arm um Touriqs Hals und sagte: »Junge, eins ist komisch hier in Shei’rah. Die Leute verschwinden einfach so.«
»Ich nicht«, sagte Touriq ernst. Joey lehnte ihren Kopf an seinen Kopf.
∗ Fünftes Kapitel ∗
    Die wollte wahrlich noch am selben Tag nach Hause. Während Touriq gemächlich dem Abendrotwald entgegentrabte, dachte sie sich bereits leicht voneinander abweichende Geschichten aus, die sie ihrer Familie, ihren Lehrern, BeeBee Huang und Abuelita erzählen
    würde – oh, ob ich Abuelita vielleicht erzählen kann, was wirklich geschehen ist? -, für den Fall, daß man sie doch vermißt hatte. Nur verflog die Zeit hier mit derart schwer faßbarer Raffinesse, daß sich Joey meist fühlte, als wachte sie frühmorgens in ihrem dunklen Schlafzimmer auf, als blickte sie auf ihre Uhr und stellte mit unsagbarer Freude fest, daß sie noch die eine oder andere Stunde schlafen konnte, bis sie in die Schule mußte. Es waren die besten und seltsamsten Träume, die dann vorüberzogen, doch läutete der Wecker an einem solchen Morgen noch mit mehr Schadenfreude als sonst, und sie blieb für den Rest des Tages stets etwas orientierungslos. Ihre Zeit in Shei’rah war wie diese Morgenträume, und ein kleines Stück von ihr lauschte ständig nach dem Wecker.
    »Eigentlich sollte ich Heimweh haben«, sagte sie zu Ko, »aber es ist wirklich schwierig, Heimweh zu bekommen, wenn man sich unsicher ist, ob man wach ist oder nicht.« Wie in den Träumen ließen sich ihre Tage in Shei’rah nicht in Stunden, Minuten und Sekunden aufteilen. Oft wanderte sie mit Ko und anderen Tirujai in den Wäldern umher. Der Satyr nannte sie noch immer »Tochter«, betrachtete sie als seinen persönlichen Schützling und als seine Schülerin in allem, was Shei’rah betraf. Seine zahllosen Vettern – sämtliche Tirujai schienen miteinander verwandt zu sein, wenn auch auf derart komplizierte Art und Weise, daß selbst Ko es aufgab, ihr alles zu erklären – akzeptierten Joey ohne jedes Zögern. Sie aß und genoß die Früchte, Beeren und Knollen, von denen sie sich ernährten, und kostete vorsichtig den schwarzen Saft, der aus allem gewonnen wurde, was gerade gärte. Die Jüngeren gebärdeten sich unter seiner Einwirkung manchmal etwas rüpelhaft, doch sehr schnell fühlte sich Joey in Gesellschaft eines jeden Satyrs ebenso sicher wie unter den Einhörnern selbst. Einmal

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