Die Sonate des Einhorns
sagte Ko voller Stolz zu ihr: »Wir Tirujai sind ein wenig wie die Ältesten. Wir sehen in alle Richtungen, vorwärts und zurück, hierhin und dorthin, nur nicht so weit.« Er hielt inne, und dann fügte er hinzu: »Außerdem sind wir nicht unsterblich. Ich glaube, das ist gut so. Denke ich.«
Oft verbrachte sie einen ganzen Morgen oder Nachmittag bei der Bach-Jalla. Sie schwammen stets gemeinsam, spielten unter Wasser Verstecken und dösten am Ufer im Sonnenschein, und der Wassergeist lehrte Joey- wie versprochen –, Fische mit bloßen Händen zu fangen. Die Bach-Jalla fand es höchst verblüffend, daß Joey sie nicht an Ort und Stelle aß, wie sie es tat, sondern sie ohne Ausnahme entkommen ließ, um sie voll Begeisterung erneut zu jagen. Am allerliebsten erzählte die Bach-Jalla nach dem Schwimmen lange, einschläfernd verschlungene Geschichten von großen Stürmen, Jagden, Schlachten und Festen, die ihresgleichen von den weniger friedfertigen Fluß-Jallas hörte, und ebenso gerne lauschte sie Erzählungen über die seltsame, wilde Welt jenseits der Grenze. Es lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft, wie man einen Computer benutzte, in einem Einkaufszentrum Besorgungen machte oder Immobilien verkaufte, dennoch hörte sie begeistert zu. Mit Brüdern hingegen kannte sie sich aus, und sie machte bezüglich Scott einige blutrünstige, nichtsdestoweniger faszinierende Vorschläge.
Doch die besten Tage in Shei’rah verstrichen in der Gesellschaft der Einhörner. Gewöhnlich schlief sie angewärmt und eingerollt zwischen Touriq und seiner Mutter Fireez, die, wie sie erfuhr, vom meergeborenen Einhornstamm kam, deren Mitglieder man Ki-Lins nannte. »Der Lord Sinti stammt vom Himmelsvolk ab«, erklärte ihr Fireez, »den Lanau. Die Karkadanns sind die Karkadanns, ganz Erde und Stein. Wir sind nicht von derselben Hand erschaffen, und doch gab man uns Shei’rah, um hier gemeinsam zu leben. Und das tun wir nun.«
Das dritte Einhorn, dem Joey zusammen mit Sinti und Fireez begegnet war – blaugrau, schlank, still und anmutig –, war Prinzessin Lisha, die Tochter des Lord Sinti. Sie sprach seltener als die anderen, sogar seltener als ihr Vater, doch von Anfang an hatte ihre Gegenwart etwas Tröstliches für Joey, obwohl sie nicht hätte sagen können, wieso. Oft spazierten sie vor dem Morgengrauen oder in Nächten, die zu gut dufteten, als daß man schlafen wollte, durch den Abendrotwald. Die Musik Shei’rahs klang im Sternenlicht stets näher und klarer, besonders in Gesellschaft eines Einhorns.
Einmal sagte sie im Zwielicht: »Ich verstehe das nicht. Ständig überschreitet ihr die Grenze. Ich meine, wenn ich ein Einhorn wäre, Junge, ich würde keinen Schritt aus Shei’rah hinaus setzen. Also in meiner Welt haben wir fast nur noch Smog und Kino und verhungernde Menschen, die im Fernsehen gezeigt werden. Und hier ist es wunderschön, selbst mit zweiköpfigen Schlangen und anderem Getier. Ich verstehe einfach nicht, wieso ihr euch für uns interessiert.«
Prinzessin Lisha lachte leise. Das Lachen der Ältesten war wie eine sanfte, warme Brise in Joeys Gedanken.
»Träume«, sagte sie. »Bei uns gibt es eine Legende, daß wir aus Shei’rah eure Welt erträumt hätten. Ich bezweifle das zwar, aber wir Ältesten verbringen mehr Zeit damit, an die Menschen zu denken und sie zu bestaunen, als du dir vorstellen kannst. Vielleicht ist Shei’rah nur deshalb an eure Welt gebunden, weil wir so grenzenlos fasziniert von euch sind. Ich kann es nicht erklären, aber so muß es sein. Warum sonst können wir die Gestalt von Menschen annehmen und nur diese? Wir sind auf ewig, was wir sind, unwandelbar – ihr seid alles auf einmal, Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, alles wild durcheinander. Ich bedaure euch sehr, ich könnte es nie ertragen, wie ihr zu sein, aber ich staune und staune über euch.«
Joey wollte etwas entgegnen, änderte jedoch dreimal ihre Meinung und brachte schließlich murmelnd hervor: »Für euch ist es nicht so schlimm, blind zu sein, oder? Ich meine, ihr kommt doch gut zurecht… keiner würde es merken, wenn da nicht dieses Zeug an euren Augen wäre.«
»Von einem Ort zum anderen zu gelangen, ohne gegen einen Baum zu laufen, ist nicht alles«, erwiderte Prinzessin Lisha still. »Es schwächt uns, auf ewig unter Schatten zu leben. Wir sind in gewisser Weise schlichtere Wesen als die Menschen. Wir sind dafür gemacht, die Welt um uns zu sehen, sie tief und nah zu sehen, nicht, sie uns vorzustellen,
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