Die Sonate des Einhorns
nicht, sie zu belauschen, nicht, sie in Gedanken nachzuvollziehen. Ihr habt gelernt, mit vielerlei Blindheit zu leben, glaube ich, und ihr bleibt dennoch ihr selbst. Solches Glück haben wir nicht, wir Ältesten.« Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr: »Aber der Lord Sinti besitzt heilende Kräfte und wird sicher eine Möglichkeit finden, unser Augenlicht wiederherzustellen. Wir können warten.«
Unmerklich hatte der Himmel ein blasses, durchscheinendes Grün angenommen, wie er es in Shei’rah kurz vor Sonnenaufgang stets tat. Joey sagte: »Ich habe diesen Jungen kennengelernt – diesen Ältesten, meine ich –, jedenfalls heißt er Indigo. Weißt du, äh … kennst du ihn?«
»Ich kenne Indigo.« Die Prinzessin sah Joey mit blinden, juwelenbesetzten Augen an, die nichts verrieten.
Joey eilte voran. »Ja, na ja, ich nicht. Ich meine, ich weiß, daß er einer der Ältesten ist, nur habe ich ihn in, na ja, menschlicher Gestalt kennengelernt, weil er die Grenze oft überschreitet, denn er ist wirklich fasziniert von meiner Welt, und das ist absolut alles, was ich weiß, abgesehen davon, daß er mich vor diesen Viechern, diesen Criyaqui, gerettet hat. Nicht daß du denkst, ich mag ihn oder so – ich wollte mich nur bei ihm bedanken, das ist alles.«
Bedächtig sagte Lisha: »Indigo schätzt es nicht, wenn man ihm dankt. Indigo schätzt überhaupt wenig.«
»Erzähl mir davon«, sagte Joey. »Soweit ich weiß, gefällt ihm nur Woodmont in Kalifornien, und das ist verrückt.« Sie zögerte. »Passiert das hier manchmal? Ich meine, du weißt schon, daß ein Ältester verrückt wird oder so?«
Wieder lachte die Prinzessin. »Ein solches Wort besitzen wir nicht, aber ich verstehe, was du damit sagen willst. Nein, so ist Indigo nicht. Aber er war auch noch nie wie die meisten von uns. Ihm fehlt die Gabe der Zufriedenheit – er hat keine Leichtigkeit in sich, keinen Frieden mit den Dingen, so wie sie sind. Ich weiß nicht, ob das gut ist oder schlecht oder keins von beidem, aber es macht ihm das Leben in Shei’rah sehr schwer.«
»Aber das verstehe ich immer noch nicht«, sagte Joey. »Ich würde sofort mit ihm tauschen. Das würde ich.«
Während sie sich auf ihrem Spaziergang so unterhielten, hatten sie, ohne es recht zu bemerken, den Abendrotwald verlassen und befanden sich schon weit draußen in der Ebene, wo sonst die jungen Einhörner tollten. Joey hatte eben sagen wollen: »Naja, da ist natürlich noch Abuelita, meine Großmutter«, als sich der Morgenhimmel verdunkelte und das eisige Schnattern begann.
Joey hielt sich mit beiden Händen an Prinzessin Lishas Mähne fest, um nicht vor Entsetzen in die Knie zu gehen. Die Perytone hatten den Sonnenaufgang im Rücken, der ihre schwärmenden Massen rotgold umrahmte, als sie herabstürzten. Gelassen wie immer drehte Lisha den Kopf und schickte einen flüchtigen Blick zum Abendrotwald. Ihre Stimme erklang in Joeys Gedanken. »Wir können uns nicht mehr in Sicherheit bringen. Ich muß hierbleiben und ihnen die Stirn bieten. Laß mich los, meine Kleine, aber bleib in meiner Nähe. Sie müssen sehr hungrig sein.«
Die Perytone sahen aus wie Hirsche. Sie waren nicht größer als Hauskatzen, mit dunklen, spitz zulaufenden Flügeln wie Seevögel, doch ihre Leiber waren die gewöhnlicher Hirsche, bis hin zu den zierlichen Hufen und Miniaturgeweihen der Männchen. Der einzige Unterschied, abgesehen von der Größe, lag darin, daß sie nach verwesendem Fleisch rochen und aus ihren sanften, weichen Mündern scharfe Zähne ragten, die zu groß für sie waren. Joey merkte, als sie neben Prinzessin Lisha kauerte, daß dieses schreckliche Schnattern der Perytone nichts weiter als das Klappern ihrer Zähne war, die sich auf ewig aneinander schärften.
Lisha bäumte sich auf, um dem Ansturm zu begegnen. Ihr herausforderndes Brüllen erstaunte und erschreckte Joey, die noch nie den Schlachtruf eines erbosten Ältesten gehört hatte. Ihr Horn blitzte nach links und rechts in die Vorhut der Angreifer, zerstreute sie und holte drei davon vom Himmel, die nun zähneknirschend und sich windend zwischen den wilden Blumen lagen. Die Perytone drehten einen Augenblick lang ungeordnet ab, dann schloß sich die Wunde in ihren Reihen mit widerlicher Präzision, und sie flogen geschlossen ihre Kurve, zogen die zarten Beinchen an die Leiber heran und stürzten sich wieder auf Joey und das Einhorn.
Die folgenden Sekunden oder Minuten oder Stunden blieben für Joey stets ein nicht enden
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