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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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anmutig wie sie. Wenn sie die beiden zu später Stunde gemeinsam im Abendrotwald sah oder einen von der Morgenröte eingefärbten Wasserfall betrachtete, der von einer Klippe bis fast vor ihre Füße stürzte, fühlte sie, wie sich die Freude darüber in ihr spiegelte. Oft lud Lisha sie ein, ihnen Gesellschaft zu leisten, doch Joey war stets zu scheu, um darauf einzugehen.
    Den Lord Sinti traf sie immer dann, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Nie hörte oder sah sie ihn, und da ging er schon an ihrer Seite, manchmal freundlich und – für Sintis Verhältnisse – gesprächig, dann wieder so fern, so abgeschlossen, so ruhig, daß sie sich albern vorkam und sich ein wenig fürchtete, unfähig, sich vorzustellen, wieso er ihre Gesellschaft suchen mochte. Dennoch gab es Momente, in denen sie ihn plötzlich in ihren Gedanken hörte, obwohl er nirgendwo zu sehen war, wenn er sie vor einem sich nähernden Schwarm Perytone oder einem Jakhao warnte, der als Einzelgänger durch den Abendrotwald streunte. Einmal, als sie auf dem Bauch an einem kleinen, schattigen Teich lag, Kleebattstengel kaute, das kalte, klare Wasser trank und an gar nichts dachte, sah sie sein windzerzaustes Spiegelbild neben ihrem Gesicht und war sich sicher, daß sie ihn sagen hörte: »Hilf mir, Josephine Rivera.« Doch als sie sich aufsetzte und umwandte, zeugte nur die Musik davon, daß er dagewesen war.
    Mehrmals sah sie Indigo aus der Ferne, stets in Einhorngestalt, doch hatte sie nur einmal Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Ko hatte sie bald nach ihrer Ankunft in Shei’rah in ein Bergdorf mitgenommen, schmucklos bis zur Kärglichkeit, in das Joey sich sogleich verliebt hatte. Der Aufstieg war steil, doch nahm sie ihn oft auf sich, um dort oben zwischen einer Ansammlung von mächtigen Steinen Platz zu nehmen, die einen überraschend bequemen Sitz bildeten, und von dort aus die Rücken rauchfarbener Vögel zu betrachten, die geflügelten Fischen glichen und stundenlang an einer Stelle stehen konnten. In der allgegenwärtigen Sattheit Shei’rahs erfüllte es sie mit Zufriedenheit, daß es einen Ort gab, an dem man nur Himmel und Steine sehen konnte und einen Fluß, der tief unter ihr glitzerte. Ko hatte ihr wiederholt eingeschärft, sie solle sich wegen der Fluß-Jallas, die dort lauerten, von ihm fernhalten, und Joey hatte sich ihm in treuem Glauben gefügt, bis sie eines Nachmittags den weißen Ältesten am Flußufer stehen sah.
    Augenblicklich kletterte sie die Felsen hinab, schürfte sich Hände und Knie auf, ohne es zu beachten. Die Entfernung war zu groß, um ein weißes Einhorn vom anderen zu unterscheiden, doch sagte sie im Abstieg zu sich selbst: »Wenn er es ist, merke ich es daran, daß er sofort davonläuft, wenn er mich sieht. Daran erkennt man Indigo.«
    Es war Indigo, doch er lief nicht davon. Er stand da und starrte in den träge dahinfließenden Fluß, noch schmal hier in dieser Höhe, doch bereits jetzt tief und seltsam finster, sogar im grellen Sonnenlicht. Joey näherte sich ihm zaghaft, blieb wie angewurzelt stehen, als der geschmeidige, goldene Kopf und die kräftigen Schultern aus einem Strudel nahe des Ufers auftauchten. Das Gesicht der Fluß-Jalla war erstaunlich liebreizend, mit ihren riesigen Augen, ihrer Haut so samten wie die eines Schmetterlings und einem breiten, zarten Mund, der so perfekt geformt war, daß Joey staunend ihr eigenes Gesicht mit den Händen bedeckte. Sie hörte, daß Indigo etwas sagte und dann ihre Antwort, die leise und amüsiert und liebenswert, aber auch gierig übers Wasser perlte. Die Fluß-Jalla wandte den Kopf und sah Joey an.
    Ihre Blicke begegneten sich nur wenige Sekunden, und dann mußte Joey sich wieder vor dem verschließen, was sie in den Augen der Fluß-Jalla sah, jetzt und für alle Ewigkeit. Wieder hörte sie das amüsierte Lachen und Indigos Stimme, die plötzlich einen harschen Tonfall angenommen hatte. Und sie schlug die Augen gerade noch rechtzeitig auf, um das letzte höhnische Blitzen eines fischzahnigen Lächelns zu sehen, ehe die FlußJalla verschwand, ohne auch nur die kleinste Welle zu hinterlassen, die sie hätte verraten können. Joey blieb stehen, wo sie war, und zitterte, bis Indigo, ohne sie anzusehen, sagte: »Heute taucht sie nicht mehr auf. Komm her.«
    Aus der Nähe erkannte sie an der Schlankheit seiner langen Beine und dem vergleichsweise groben Fell, daß er zu den Lanau gehörte, den luftgeborenen Einhörnern, wie Sinti und Prinzessin Lisha. Langsam trat

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