Die Sonate des Einhorns
beschreiben. Und es gibt Leute, die im Wasser leben, und man kann lange bleiben, so wie ich, und hier merkt keiner, daß man weg war. Und ich habe es nicht geträumt, Abuelita, und ich denk’ es mir nicht aus, wirklich, ehrlich nicht. Es heißt SheiVah, und ich war da.«
Abuelita deutete mit gehobenen Händen ironisch an, daß sie sich geschlagen gab. »Socorro, despacio. Hilfe, langsam, langsam, Fina. Ich bin eine alte Frau, ich kann nicht so schnell hören, wie du redest.« Sie lachte, doch ihre Augen blieben ruhig und ernst. »Erzähl mir davon, Fina. Langsam. Auf spanisch.«
An diesem Tag drehten sie viel mehr Runden als sonst um den kleinen Park, doch keiner von beiden fiel es auf. Die letzte Runde verlief schweigsam, als plötzlich eine Stimme die Stille durchbrach: »Mrs. Rivera! Mrs. Rivera!« Joey blickte auf und sah, daß ihnen eine der Pflegerinnen von Silver Pines über den Golfplatz entgegengelaufen kam.
»Mierda!« sagte Abuelita. »Scheiße, meine Untersuchung, die habe ich ganz vergessen. Sie wollen immer unbedingt wissen, wie lange ich mein Bett noch brauche.« Sie winkte der Pflegerin zu, dann drehte sie sich um und nahm Joeys Gesicht in beide Hände. »Hör zu, Fina, ich muß über das nachdenken, was du mir erzählt hast. Ich muß nur etwas darüber nachdenken. Verstehst du?« Joey nickte. Abuelita sagte: »Dieses Land, dieses Shei’rah … du hast nicht zufällig deinen Großvater, den Abuelo Ricardo, irgendwo gesehen, was? Nein. Na, egal.« Sie winkte noch einmal und rief: »Wir kommen, Senorita Ashleigh! Lassen Sie das Laufen, Sie werden noch einen Herzinfarkt bekommen, und dann müssen Sie bei mir einziehen!«
Die Tage verstrichen. Joey ging zur Schule, kam einigermaßen mit ihren Litern aus, wenn sie zu Hause waren, stritt sich regelmäßig mit ihrem Bruder Scott, schlief gelegentlich drüben bei BeeBee Huang, half mehrere Nachmittage in der Woche in Papas’ Musikladen aus, und gewöhnte sich daran, aufmerksam in die Augen der Straßenmusikanten zu blicken, obdachlose Männer und Frauen und torkelnde, halbirre Bettler, die es offiziell in Woodmont gar nicht gab. Sie traf keine Ältesten mehr, doch hielt sie stets nach ihnen Ausschau.
Indigo kam nicht zurück. John Papas schlurfte im Laden umher, ungewöhnlich gereizt, verschwand oft, um lange mysteriöse Telefonate auf griechisch zu tätigen. Er holte Joey nun häufig von ihren anderen Aufgaben weg, um ihr spontan eine Musikstunde zu geben und ihr währenddessen ständig zu erklären: »Schreib, schreib, du mußt es zu Papier bringen, diese Sachen, die du da drüben gehört hast, in diesem Land. Was nützt einem das Hören, wenn man es nicht aufschreiben kann?« Joey gab sich alle Mühe, die Dreiklänge und Durchgangstöne, Harmoniefolgen, Mollakkorde und den ganzen Quintenzirkel im Gedächtnis zu behalten, doch die Worte und Ziffern, die Klaviertöne selbst schienen so wenig mit der Luft zu tun zu haben, die sie in Shei’rah geatmet hatte, daß sie oft die Hände in die Luft warf und aus dem Laden stürmte, wobei sie so sehr die Tür zuknallte, daß die alte Holzverschalung klapperte. Doch stets kam sie am nächsten Tag zurück. Es gab nur noch einen anderen Ort, an dem sie sein wollte.
Und sie fürchtete sich vor dem Versuch, noch einmal dorthin zu gelangen. John Papas fragte sie mehr und mehr aus, während die Tage ohne ein Lebenszeichen von Indigo vergingen. »Hast du schon mal daran gedacht, ob du dieses Land wiederfinden könntest, diese Grenze? Nur um, du weißt schon … um nachzusehen?«
Joey nickte, ließ das Ordnen der Noten sein und wandte sich ihm zu. »Die ganze Zeit. Eigentlich jede Sekunde.«
Demonstrativ drehte sich John Papas weg, murmelte etwas, während er die Saiten am Hals einer Gitarre einstellte: »Na, vielleicht solltest du es mal versuchen. Könnte nichts schaden.«
»Nur mir«, sagte Joey. »Mir könnte es schaden. Zweimal täglich, jeden Tag, komme ich an dieser Ecke vorbei, und jedesmal denke ich: Okay, heute ist es soweit, diesmal gehe ich wirklich einen Block weiter, einen halben Block, und da ist Shei’rah, Shei’rah und die Musik und die Ältesten und alle, jetzt, jetzt. Aber ich tue es nie. Denn was ist, wenn ich diese Straße hinuntergehe und nichts passiert? Keine Musik, keine Grenze, kein Shei’rah, einfach nichts? Das könnte ich nicht ertragen, Mr. Papas. Dann möchte ich es lieber gar nicht wissen, verstehen Sie?« Sie weinte nicht, aber ihre Augen fühlten sich ganz kalt an, schwere
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