Die Sonate des Einhorns
einer gewöhnlichen Bach-Jalla abgeben?« Erst als Abuelita sich gleichmütig ans Ufer setzte, ihre arthritischen Füße im Wasser baumeln ließ und anfing, aus dem Buch vorzulesen, das Joey in ihrem Rucksack mitgebracht hatte, traute sich der Wassergeist ein wenig näher. Klugerweise ging Joey mit Touriq zusammen weg, kehrte einige Stunden später allein zurück und fand die beiden in seligem Schlummer. Der Kopf der Bach-Jalla lag auf Abuelitas Schoß, und sie hielt das Bilderbuch mit ihren beiden feuchten Schwimmhänden.
Joey war mit Abuelita in Shei’rah ganz einfach so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Ihre kühnsten Erwartungen wurden übertroffen: Ihre Großmutter – so feurig und neugierig, als hätte sie ihre siebzig Jahre einfach abgeschüttelt – bestand darauf, überall hinzugehen, alles zu erkunden, alles zu lernen. Joey sagte zu Ko: »Es ist, als würde man eine Dreijährige hüten. Kaum drehst du dich um, versucht sie, sich einen Jakhao mal richtig aus der Nähe anzuschauen, oder sie spaziert im Freien herum und pflückt Blumen, glücklich wie eine Muschel bei Flut, genau da, wo die Perytone sie hätten pflücken können. Glücklich wie eine Muschel bei Flut.« Sie lachte und zuckte mit den Schultern. »Gestern habe ich sie nur eine Minute aus den Augen gelassen und fand sie erst nach Sonnenuntergang wieder. Ich hatte wirklich Angst um sie. Weißt du, wo sie war? Rate doch mal.«
»Mit einem meiner jüngeren Vettern unterwegs.« Ko blickte zu Boden. »Entschuldige, Tochter.«
»Oh, sie hatte ihren Spaß, glaub mir«, sagte Joey. »Sie hat sich prima damit amüsiert, im Wald herumzustreunen. Ich kann es nicht fassen. Es ist, als hätte ich plötzlich eine ganz andere Großmutter, eine, die ich kaum kenne.« Sie seufzte. »Es wird sicher ein Drama, wenn ich sie nach Hause bringen muß. Wenn es Zeit wird.«
Doch wann diese Zeit kommen würde, konnten ihr weder Ko noch die Ältesten sagen. Sie erfuhr lediglich – von Touriqs Mutter Fireez –, daß eine echte Grenzverschiebung – im Gegensatz zum kurzen Beben, das die Grenze nur mitten auf die San-Diego-Autobahn geworfen hatte – sämtliche Regeln der Grenzüberschreitung zwischen den beiden Welten brach. »Es muß kein Mond da sein – eine Verschiebung kann irgendwann tagsüber oder nachts geschehen. Doch der Zeitraum, in dem wir hinübergehen können, wird sehr kurz, viel kürzer als gewöhnlich sein. Und die Übergänge ändern sich, wie du weißt.« Sie ermahnte Touriq, weil er zu grob mit einem kleinen Satyr spielte, und wandte sich wieder Joey zu. »Eins aber kann ich dir sagen. Achte auf die Shendi.«
»Die Shendi«, wiederholte Joey. »Die kleinen Drachen?«
Fireez nickte. »Wo sie sind, wird zu diesem Zeitpunkt auch die Grenze sein. Achte stets auf sie. Sag es auch deiner Großmutter.« Das meerschaumfarbene Einhorn betrachtete sie mit seinen heiteren, unergründlichen Augen, deren Blick Joey nie länger standhalten konnte, weil sie davon ganz benommen wurde. »Dann heißt es Lebewohl, Josephine.«
Abgesehen von Sinti nannten die Ältesten sie nur selten bei ihrem Namen. Joey fühlte, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte. »Vielleicht auch nicht. Ich meine, vielleicht verschiebt sich die Grenze nur nach San Francisco oder irgendwohin. Sogar Yuba City, das war’ doch was. Ich habe einen Onkel in Yuba City.«
Touriq drückte sich fest an Joey, stieß den Kopf an ihre Brust und trat ihr auf die Füße. Fireez sagte: »Diese Verschiebung wird Shei’rah in sehr weite Ferne führen. Ich kann es fühlen.« Sie zögerte, strich ihr Horn kurz über Joeys Wange und fügte dann hinzu: »Diejenigen von uns, die jetzt in eurer Welt leben … ich glaube, sie werden die Grenze nie mehr finden, nur dir gelingt es vielleicht. Wenn du sie findest, sag es ihnen. Achte auf sie und sag ihnen, wo wir sind, Josephine.«
»Ja«, flüsterte Joey. »Ja, das werde ich tun.«
Auch weiterhin zeichnete sie ihre Karten und Bilder von Shei’rah, skizzierte das Leben dort mit unbekannter, drastischer Intensität. Dank ihres Unterrichts bei John Papas war sie nun in der Lage, auf improvisiertem Notenpapier Fragmente der Musik zu kritzeln, die hier so sehr ein Teil ihres täglichen Atems war wie der Duft jener Blumen, deren Namen sie noch immer nicht kannte. Die Bach-Jalla betrachtete sie fasziniert und ungewohnt schweigsam, bis sie schließlich fragte: »Was willst du damit machen, meine Schwester? Wenn du Shei’rahs Gesänge zwischen diesen schwarzen
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