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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Fina, du hast es geschafft. Du hast mir die Musik geschenkt.«
    Joey umarmte sie, warf jedoch gleichzeitig einen wachsamen Blick in den strahlenden Himmel. »Wir sollten besser in den Wald gehen. Die Perytone kommen oft hierher.« Indigo war ohne ein Wort verschwunden.
    »Perytone.« Abuelita versuchte sich an dem Wort, strich über Joeys Haar. »Peritonos. Sie klingen hübsch.« Sie sah über Joeys Schulter, und plötzlich erstarrte ihre zärtliche Hand in der Bewegung. Hastig drehte Joey sich um. Der Lord Sinti kam ihnen entgegen.
    Joey konnte sich nicht erinnern, das schwarze Einhorn je am hellichten Tag gesehen zu haben. Sie kannte es als Wesen der Abend- und Morgendämmerung, des Zwielichts und Schattens, zutiefst anwesend, doch nie ganz sichtbar. Nun, als er entschlossen in ihre Richtung kam, wirkte er im Sonnenlicht noch dunkler, so schwarz, daß alles – nur nicht seine Schwärze –Joey in den Augen schmerzte. Er hielt seinen Kopf aufrecht, so daß die Wucherungen, die seine Augen verschlossen, türkis in der Sonne erstrahlten, und die Musik Shei’rahs, die näher klang, als Joey sie jemals gehört hatte, umtänzelte ihn wie Delphine, die ihm das Geleit gaben. Er will sich vor Abuelita wichtig tun, dachte sie albernerweise, spürte, wie ein Schluchzen und ein Kichern in ihrer Kehle aufstiegen.
    Sinti schritt an ihr vorbei, ohne ihr das geringste Zeichen zu geben, daß er sie wiedererkannte, und ging ohne Umschweife zu Abuelita, neigte das schwarze Horn, bis es den Saum ihres Kleides berührte. Bedächtig, verwundert streckte Abuelita eine Hand aus, um die Stelle zu berühren, an der es aus seiner Stirn trat. Sie sagte: »Das habe ich geträumt. Ich habe von dir geträumt.«
    »Wir haben voneinander geträumt«, sagte der Lord Sinti. Seine Stimme war ein Ruhepol in Joeys rasenden Gedanken. »Willkommen, Alicia Ifigenia Sandoval y Rivera.«
    »Alicia Ifigenia Josephina«, verbesserte Abuelita ihn. Sie drückte Joeys Hand, doch starrte sie auch weiterhin nur Sinti an. Das schwarze Einhorn sagte: »Einmal in ewigen Zeiten geschieht es, daß ein Traum in eurer Welt einen Traum in Shei’rah berührt. Es kommt selten vor, aber manchmal eben doch.«
    Benebelt und irgendwie abwesend bemerkte Joey, daß sie Sinti auf englisch hörte, Abuelita jedoch forsch auf spanisch antwortete. »Es kommt selten vor, sagst du? Dann kommt doch mal ins Silver-Pines-Seniorenheim. Da sind lauter alte Damen wie ich, und alle träumen von einem Land wie diesem. Was gibt es denn sonst noch für uns, sag mir das mal. Wenn ich jede Nacht von dir geträumt habe, seit ich dorthin gekommen bin, Nacht für Nacht, wer weiß, was die anderen alten Frauen, die viejas, träumen.«
    Sie streichelte Sinti am Hals, und Joey sah, daß sich der Älteste der Ältesten wie eine Hauskatze in die Berührung schmiegte. Er sagte: »Aber ich habe auch von dir geträumt, und ich bin keine Großmutter in Silver Pines.« Er wandte Joey seinen blinden Kopf zu. »Als sie das erste Mal kam, dachte ich, du wärst es. Ich dachte, ich hätte die falsche Zeit geträumt.«
    Abuelita legte den freien Arm um Joeys Schultern. »Meine Fina ist wie ich, nur besser. Das neue, verbesserte Modell.« Ihr Gesicht verdüsterte sich, als sie ihre Hände sanft auf die Augen des schwarzen Einhorns legte. »Ich habe nicht geträumt, daß du blind bist, pobrecito. Armes Kind, was ist das?«
    »Es geschieht mit allen«, erklärte Joey. »Mit den ältesten zuerst, dann mit den … den kleinen.« Sie dachte an Touriq und wünschte ihn her.
    Wieder berührte Abuelita die Augen des schwarzen Einhorns. »Das hier, ich muß mich erinnern, was wir in Las Perlas getan haben. Wir waren zu arm, um uns Ärzte leisten zu können, aber es gab da etwas … es fällt mir wieder ein.«
    Sie warf einen Blick über die Wiese und seufzte zufrieden. »Wer führt mich durch dieses schöne Land?«
    Die Bach-Jalla war eine Weile eifersüchtig auf Abuelita. Da sie selbst keine Familie besaß – nur das intensive Zusammengehörigkeitsgefühl aller Jallas, so abgeschieden sie auch leben mochten –, verstand sie die Vertrautheit zwischen Joey und Abuelita automatisch als Zurückweisung. Es war seltsam, aber sie fühlte sich ausgeschlossen. Sie empfand Abuelitas Alter als erstaunliches Wunder, ihre faltige, braune Haut und das weiße Haar waren Gaben, die sie ihr zutiefst neidete. »Wenn du immer mit jemandem zusammen sein kannst, der so schön ist«, sagte sie ernst zu Joey, »wieso solltest du dich dann mit

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