Die Sonate des Einhorns
Vorort – während die San-Diego-Autobahn in der Ferne murmelte –löste sich Indigo vor ihren Augen auf und floß gleichzeitig in seine neue Form zurück: paarhufig, mit zierlichem Bart, in dieser Welt noch weißer als in seiner eigenen. Joey konnte im Licht einer Straßenlaterne sehen, daß sein Horn nicht gänzlich weiß war, sondern dunkler an Sockel und Spitze, wie Schneeschatten. Er neigte den Kopf vor Abuelita, und sie seufzte wie eine Liebende.
»Er wird dich auf seinem Rücken tragen«, sagte Joey. »Es geht schon, er wird dir helfen.« Indigo kniete am Randstein nieder.
Lange sah Abuelita ihn an, dann Joey, und dann hinauf in den dunklen Himmel. Leise sagte sie in einem Spanisch, welches so förmlich klang, daß Joey es kaum verstand: »Ricardo, vielleicht ist das der Weg, auf dem ich zu dir kommen soll. Möge es so sein.« Dann schwang sie sich wendig und selbstsicher wie ein junges Mädchen auf Indigos Rücken. Sie hielt sich an seiner Mähne fest, während er langsam die ersten Schritte machte.
»Was ist mit mir?« protestierte Joey. »Ich bin total erschlagen, ich komm’ nicht hinterher. Kann ich nicht auch reiten?«
Indigo warf ihr einen strahlenden, amüsierten Blick zu. Absichtlich beschleunigte er seinen Schritt, und Joey keuchte neben ihm her, hielt sich an Abuclitas Knöchel fest. »Wenn sich die Grenze wieder verschiebt«, sagte er, »kommt sie nicht mehr an diesen Ort zurück. Ihr müßt aufpassen, daß ihr She’rah rechtzeitig verlaßt.«
»Wie rechtzeitig? Was meinst du damit? Wie sollen wir das wissen?« Indigo ignorierte Joeys Frage vollkommen. Er hatte sich inzwischen von den Straßen der Innenstadt abgewandt, und mit wachsender Unruhe merkte Joey, daß er direkt in Richtung San-Diego-Autobahn lief. Sie sah Abuelita an, die aufrecht auf dem Rücken des weißen Einhorns ritt, ihr Gesicht ganz jung vor Staunen, ihr Mund bewegte sich wortlos, das schwarzweiße Haar wogte lose um ihren Kopf. Sie fürchtet sich nicht, Großvater. Oh, sie fürchtet sich kein bißchen.
Immer wieder hupte ein Auto hinter ihnen. Einen Augenblick lang blickte Joey sich um und sah hinter einer Windschutzscheibe eine Menge junger Gesichter mit offenen Mündern, doch da bekam Indigo sie schon hinten am T-Shirt mit den Zähnen zu fassen, hob sie mühelos vom Boden auf und setzte sie vor Abuelita, die sie festhielt, während sie noch um ihr Gleichgewicht kämpfte. Dann hämmerten Indigos Hufe die Auffahrt hinauf und mitten hinein in den Verkehr auf der Autobahn. Inzwischen heulten die Hupen wie verrückt, Bremsen kreischten und Scheinwerfer rasten in alle Richtungen wie ein aufgeschreckter Schwarm Fische, während die Fahrer versuchten abzubremsen, zu beschleunigen, die Fahrbahn zu wechseln und gleichzeitig nicht mit dem Unmöglichen zu kollidieren. Zu benommen, um sich zu fürchten, schloß Joey die Augen und klammerte sich an Indigos Mähne fest, spürte Abuelitas ruhige Hände an ihrer Hüfte, die sie stützten. Abuelita sagte ihr ins Ohr: »Ist schon gut, Fina. Uns wird nichts passieren.« Für Joey klang es, als lachte ihre Großmutter.
Indigo bog nach links und wieder nach links, schob sich wie der geschickteste aller kalifornischen Fahrer zwischen Autos, Lieferwagen und donnertosenden Lastern hindurch. Eine grasbewachsene Insel tauchte zu ihrer Linken auf: Weich sprang er in deren dürftigen Schutz und stand unbeweglich, ignorierte die dunklen Schatten, die auf beiden Seiten vorüberschössen, und das gelegentliche Todesheulen eines Kotflügels, wenn Autos, deren Fahrer sich nach ihnen umdrehten, mit anderen kollidierten. Inmitten dieses blitzenden Chaos sagte Indigo ganz deutlich: »Ohne mich hättet ihr es nie gefunden. Denkt immer daran.«
Er tat zwei entschlossene Schritte zur anderen Seite der Verkehrsinsel hin. Shei’rahs greller Mittag erblühte still um sie herum. Hinter Joey sagte Abuelita leise: »Oh.«
∗ Neuntes Kapitel ∗
Joey hatte fest damit gerechnet, Abuelita beruhigen zu müssen, die Furcht und Verwirrung einer alten Frau fortzustreicheln, doch nichts davon geschah. Der leise Aufschrei ihrer Großmutter, als diese anmutig von Indigos Rücken glitt, galt der Wiese, die auch Joey als allererstes in Shei’rah gesehen hatte. »Ay, que
milagro«, flüsterte sie, bückte sich, um beide Hände in den orangezüngigen Blumen zu baden, »oh, welch Wunder.« Als sie zu Joey aufblickte, hatte sie ein Gesicht, wie Joey es nie zuvor gesehen hatte, das Geburtstagsgesicht eines Kindes. »Ay,
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