Die Sonate des Einhorns
weiß es wirklich nicht. Komm.«
Abuelita sagte auf spanisch zu Joey: »Du kennst ihn? Dem würde ich keinen Augenblick trauen. Viel zu hübsch.«
Joey lachte hilflos und umarmte sie. »Abuelita, das ist Indigo. Es ist eine lange Geschichte. Indigo, das ist Senora Alicia Ifigenia Sandoval y Rivera. Sie ist meine Großmutter.«
Zu ihrer Überraschung nahm der Junge höflich Abuelitas Hand und küßte sie, als würde er eine Königin grüßen. Abuelita schnappte nach Luft, doch dann lächelte sie und nickte: eine Königin, der man die Ehre erwies. Indigo sagte: »Wenn ihr Shei’rah finden wollt, dann kommt.«
Joey sah Abuelita an, die sagte: »Ich muß ins Heim zurück, Fina. Dieses Shei’rah, dauert das lange?«
»Gar nicht lange«, antwortete Joey. »Ich verspreche dir, daß du wieder in Silver Pines bist, bevor sie überhaupt wissen, daß du weg warst, Abuelita.«
»Na«, sagte ihre Großmutter. »Okay dann. Laßt uns gehen. Vamonos, chicos!«
Mutig tat sie einen Schritt, folgte Indigo, als dieser sie fort von der Alomar Street führte und überraschenderweise direkt das Geschäftsviertel ansteuerte. Doch sie hinkte inzwischen sehr, und sehr bald schon wurde es für Joey und sie unmöglich, Indigos forschen, zügigen Schritten zu folgen. Als Joey ihm schließlich hinterherrief, drehte er sich um, einen Block weit voraus, und wartete ungeduldig, bis sie ihn eingeholt hatten. Joey sagte: »Du wirst sie tragen müssen. Du wirst dich verwandeln müssen.«
Indigo lachte lauthals, was ungewöhnlich scharf und direkt klang. »Ich bin nicht dein kleiner Touriq. Ich trage niemanden.«
Abuelita sah von einem zum anderen. Joey sagte, vorsichtiger als sie je etwas gesagt hatte: »Hör zu. Das hier ist meine Großmutter. Es ist mir egal, ob du ewig lebst, aber du wirst in deinem Leben nie mehr jemanden wie sie kennenlernen. Sie wird Shei’rah sehen, und wenn es das letzte ist, was ich jemals tue, wie ich langsam, aber sicher vermute. Also wirst du sie dahin tragen… auf zwei Beinen oder vieren, das ist deine Sache. Leg dich bloß nicht mit mir an, Indigo!«
Erst als sie fertig war, merkte sie, daß sie schrie. Ihr Hals tat weh, ein erstaunter Ältester glotzte sie an, und von irgendwoher sagte Abuelita stolz auf englisch: »Das ist meine Fina. Ich weiß nicht, wovon sie redet, aber sie ist ein echtes Herzchen! « Und auf der anderen Seite eines Parkplatzes, hinter dem kalt beleuchteten Schaufenster eines Möbelladens – oh, nicht weit, nicht weit! – rief die Musik Shei’rahs nach ihnen.
Indigo sah Joey sehr lange schweigend an. Es war noch früh, doch die Straßen um sie herum waren bereits leer, bis auf die Autos der Pendler auf dem Heimweg. Zwei Jungen auf Fahrrädern kamen vorbei, gefolgt von einem Streifenwagen, dessen Fahrer Indigo, Abuelita und Joey im Vorüberfahren neugierige Blicke zuwarf. Joey hörte einen Zug pfeifen und das eiserne Husten eines Schaufenstergitters, das heruntergelassen wurde.
»Siehst du«, sagte Indigo schließlich. »Da haben wir’s. Nicht einmal der Lord Sinti persönlich hätte jemals so mit mir gesprochen. Da muß erst ein sterbliches Kind kommen, ohne Manieren, ohne Geduld und ohne Verständnis für wichtige Dinge. Und dennoch fragst du, wieso ich lieber auf dieser Seite der Grenze leben will.« Dann lächelte er. »Also gut, wie du möchtest. Ich werde mich verwandeln.«
Eilig wandte sich Joey zu Abuelita um und nahm sie sanft bei den Schultern. Auf spanisch sagte sie: »Abuelita, hör zu, bitte. Was auch immer geschieht, was auch immer Indigo tut, fürchte dich bitte nicht. Es ist nur etwas, das er beherrscht, mehr nicht, und er macht es nur, um uns zu helfen. Versprich mir, daß du dich nicht fürchtest.«
Ihre Großmutter sah zu ihr auf, die Augen weise und müde unter schweren Lidern. Auf englisch erwiderte sie: »Ich hab’ doch schon gesagt, ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet. Laß ihn tun, was er tun will, und mach dir um mich keine Gedanken. Ich bin zu alt, um mich noch zu fürchten, Fina.« Sie löste sich aus Joeys Händen.
Indigo trat zurück. Er schüttelte heftig Kopf und Schultern und öffnete wortlos den Mund. Etwas Unsichtbares schien Besitz von ihm zu ergreifen, ihn zwischen seinen Kiefern zu schütteln, bis er auszufransen begann, langsam seine Umrisse einbüßte und in alle Richtungen auseinanderstob. Abuelita stöhnte auf und nahm Joey bei der Hand, doch gab sie sonst keinen Laut von sich.
Dort an der Straßenecke in einem südkalifornischen
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