Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
ich sie zärtlich an mich wie ein Neugeborenes. Ein richtig schweres Neugeborenes.
Cheryl tippt einen Befehl in ihre Tastatur, und der Drucker neben dem Terminal fängt an zu schnurren. »Gleich fertig, Kleiner.«
Angesichts der Tatsache, dass es sich um Gegenstände von höchstem ästhetischem Wert handelt, machen die Patrizen optisch nicht viel her. Im Grunde sind sie nichts weiter als dünne Stöckchen mit einer dunklen Legierung, grob und verkratzt, und erst ganz am Ende werden sie wunderschön, wenn Glyphen aus dem Metall herausragen wie Berggipfel im Nebel.
Plötzlich fällt mir wieder ein, was ich fragen wollte: »Wem gehören sie?«
»Oh, niemandem«, sagt Cheryl. »Jetzt nicht mehr. Wenn sie jemandem gehören würden, hätten Sie sich an den wenden müssen, nicht an mich!«
»Und … was machen sie dann hier?«
»Herrje, wir sind für einen ganzen Haufen Zeugs so was wie ein Waisenhaus«, sagt sie. »Wollen mal sehen.« Sie schiebt die Brille hoch und dreht am Scroll-Rädchen ihrer Maus. »Das Feuerstein-Museum für moderne Industrie hat sie uns rübergeschickt, aber die sind ja 1988 eingegangen. Richtig süßes kleines Museum. Richtig netter Kurator, Dick Saunders.«
»Und er hat einfach alles hier eingelagert?«
»Naja, also er war dann noch mal da und hat ein paar alte Autos abgeholt, mit einem Tieflader, aber den Rest hat er einfach der Con-U-Sammlung überschrieben.«
Vielleicht sollte Con-U eine eigene Ausstellung organisieren: Anonyme Artefakte aller Epochen.
»Wir versuchen, das Zeug zu versteigern«, sagt Cheryl, aber einiges …« Sie zuckt die Achseln. »Wie gesagt, alles ist für irgendjemanden eine Kostbarkeit. Aber oft ist es so, dass man diesen Jemand nicht finden kann.«
Wie deprimierend. Wenn diese kleinen Gegenstände, die für die Geschichte des Druckhandwerks und der Typografie und der menschlichen Kommunikation so bedeutend waren, in einer riesigen Lagerhalle verloren gingen … wie schlecht müssen dann die Chancen für unsereinen stehen?
»Okay, Mis-ter Jannon«, sagt Cheryl im ironisch-amtlichen Ton, »damit wäre das erledigt.« Sie steckt die ausgedruckten Seiten in den Karton und klopft mir auf den Arm. »Die Leihfrist beträgt drei Monate, und Sie können sie bis zu einem Jahr verlängern. Na, dann wollen wir mal wieder raus aus diesen langen Unterhosen, was?«
Ich fahre in Neels Hybridauto nach San Francisco zu rück; auf dem Sitz neben mir liegen die Patrizen. Sie füllen das Wageninnere mit einem durchdringenden Geruch von weichgeglühtem Metall, der mich in der Nase kitzelt. Ich frage mich, ob ich sie vielleicht in heißem Wasser auskochen sollte. Ich frage mich, ob der Geruch in den Sitzen hängen bleibt.
Es ist ein weiter Heimweg. Eine Zeit lang beobachte ich die Kraftstoffverbrauchsanzeige auf der Konsole und versuche, meine Energieeinsparung vom Hinweg zu unterbieten. Aber das wird schnell langweilig, darum stöpsele ich meinen Walkman in das Audioradio ein und lasse die Hörbuchfassung der Drachenlied-Chroniken, Teil III laufen, gelesen vom Autor Clark Moffat persönlich.
Ich lehne mich zurück, umfasse das Lenkrad auf zehn und vierzehn Uhr und lasse die seltsame Situation auf mich ein wirken. Zwei Brüder des Ungebrochenen Buchrückens, durch Jahrhunderte getrennt, flankieren mich: Moffat in der Anlage, Gerritszoon auf dem Beifahrersitz. Die Wüste Nevadas streckt sich meilenweit und leer vor mir aus, und oben im Turm der Königin von Wyrm nehmen die Dinge eine superschräge Entwicklung.
Erinnern wir uns, dass diese Chroniken mit einem Drachen beginnen, der sich im Meer verirrt hat und singend Delfine und Wale um Hilfe bittet. Er wird von einem vorbeifahrenden Schiff gerettet, auf dem sich zufällig ein gelehrter Zwerg befindet. Der Zwerg freundet sich mit dem Drachen an und pflegt ihn wieder gesund, dann rettet er ihm das Leben, als sich der Schiffskapitän eines Nachts heranschleicht und versucht, dem Drachen die Kehle durchzuschneiden, um an das Gold in dessen Speiseröhre heranzukommen, und das sind nur die ersten fünf Seiten – es ist also einigermaßen erstaunlich, dass die Handlung sich überhaupt noch schräger entwickeln kann.
Aber natürlich weiß ich jetzt auch, warum: Der dritte und letzte Band der Drachenlied-Chroniken ist zugleich Moffats Codex Vitae .
Die ganze Handlung dieser Fortsetzung spielt sich im Turm der Königin von Wyrm ab, der sich als ein nahezu eigen ständiger Kosmos entpuppt. Der Turm reicht hinauf bis zu den Sternen,
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