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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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nassen Abfall wälzten, hallte bis zu mir. Wenn ich Krähen hörte, die, aufgereiht wie schwarze Perlen, auf der Hochspannungsleitung saßen, verband meine Erinnerung ihr Krächzen mit dem Krach einschlagender Mörsergranaten, und obwohl ich zu Hause war, machte ich mich auf die Explosion gefasst, dachte: Na los, ihr Wichser, jetzt habt ihr mich am Arsch! Wenn die Krähen von der Leitung abstrichen, kam ich wieder zu mir, sah das schemenhafte Gesicht meiner Mutter hinter dem Küchenfenster, erwiderte ihr Lächeln und winkte, straffte den lockeren Maschendraht und begann, ihn festzunageln. Man will fallen, mehr nicht. So kann es nicht weitergehen, denkt man. Man hat das Gefühl, als würde das Leben auf der Kippe stehen, hoch oben auf einer Klippe, als könnte man nicht weitergehen, obwohl man eigentlich möchte, denn man hat nicht genug Platz. Die Aussicht auf einen neuen Tag scheint im Widerspruch zu den physikalischen Gesetzen zu stehen. Man kann nicht mehr zurück. Also will man fallen, loslassen, aufgeben, aber das geht nicht, was jeder Atemzug bestätigt, den man tut.

    Später August. Ich hatte die Angewohnheit entwickelt, zum Zeitvertreib lange und ziellos durch die Gegend zu laufen. Eines Morgens erwachte ich im kleinen Zimmer neben der Küche in meinem schmalen Bett und wünschte mir nicht zum ersten Mal, die Augen nie mehr aufzuschlagen. Ich hatte genug davon, dass ich nachts in Gedanken zuerst all das durchging, woran ich mich erinnerte, danach all das, woran ich mich nicht erinnerte, woran ich mir jedoch die Schuld gab, weil die Szenen, die sich hinter meinen geschlossenen Augen in Endlosschleife abspulten, so lebendig waren. Ich wusste nicht mehr, was wahr und was erfunden war, wollte aber, dass es aufhörte, wollte alles abhaken, wünschte mir, dass alles wie Nebel in der Sonne verdampfte. Ich wollte einfach nur in Ruhe schlafen können, tat aber nichts dafür. Zwischen dem Wunsch, nicht mehr aufzuwachen, und dem Wunsch, sich das Leben zu nehmen, besteht ein feiner Unterschied, und ich merkte lange nicht, dass ich auf diesem schmalen Grat balancierte, aber die Menschen, die einen umgeben, spüren natürlich, was los ist, und das führt innerhalb kürzester Zeit zu allen möglichen unbeantwortbaren Fragen.
    Eines Morgens klingelte das Telefon. Meine Mutter nahm ab. »Luke ist dran, Schatz«, rief sie aus dem Nebenzimmer. Es war elf Uhr, und ich lag noch im Bett.
    »Sag ihm, dass ich zurückrufe.«
    Sie kam in mein Zimmer, den Hörer gegen die Brust gedrückt. »Du musst mit den Leuten reden, John. Du darfst nicht so viel allein sein, das tut dir nicht gut.«
    Ich kannte Luke seit der Grundschule. Er war mein bester Freund, eine Bezeichnung, die mir immer noch inhaltsleer vorkommt. Aber das liegt an mir, nicht an ihm. Sein Name erinnerte mich an die Entdeckung, die man als Kind macht – dass ein ständig wiederholtes Wort irgendwann nur noch wie Gebrabbel oder weißes Rauschen klingt.
    »Frag ihn, was er will«, sagte ich.
    Sie starrte mich an.
    »Ich rufe ihn zurück, Ma. Versprochen.«
    Sie setzte das Telefon wieder an das Ohr, wandte sich ab. »Er ist müde, Luke. Kann er dich zurückrufen? Morgen? Gut. Ich richte es aus.«
    »Fertig?«, fragte ich.
    »Verdammt, Johnny«, fauchte sie. »Sie gehen morgen zum Fluss. Sie möchten dich sehen. Die Leute wollen dich sehen.«
    »Na gut.«
    »›Na gut‹? Wie meinst du das?«
    »Na gut, vielleicht.«
    »Überlegst du es dir?«
    »Klar.«
    »Du solltest wirklich hingehen. Denk bitte darüber nach.« Sie lächelte zögernd.
    »Verdammt, Ma. Ich denke ja schon die ganze Zeit nach. Ich tue nichts anderes.«
    Ich zog die Hose an, ging hinten auf die Veranda und spuckte über das Geländer. Die Spucke war bräunlich, und ich spürte einen dumpf pochenden Schmerz in den Augenlidern und Fingerspitzen, einen allumfassenden Schmerz, der mir das Gefühl gab, am ganzen Körper Herpes zu haben. Ich zündete mir eine Zigarette an und ging zu unserem Teich. In der warmen Sommerluft glänzte und schimmerte alles, und ich wanderte durch den Wald bis zu jener Stelle, wo der Teich in einen zwischen steilen, rötlichen Lehmufern verlaufenden Bach mündete. Weiter hinten, wo der Bach zwischen Steinen schäumte und strudelte, fand ich eine Stelle, zu der ich als Kind oft gegangen war. Dort ragte ein großer, kahler Felsen über den Bach. Die Wurzeln einer hohen Birke klammerten sich an eine Seite, verschwanden dort in der Erde, wo der Fels in die Lichtung überging. Die Wälder

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