Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
Vom Netzwerk:
außerdem ein mehr als ärmlicher Ersatz für die Trauer war, aber das gilt wohl für die meisten Gräber.
    Ich ging also zu den Bahngleisen, folgte der alten Danville-Linie nach Nordosten, in Richtung Stadt. Ein leichter Regen setzte ein. Teer suppte aus den Schwellen, ließ sie glitschig werden, und der nasse, graue Schotter verschob sich unter meinen Schritten. Ich ging langsam, schlurfte mit gesenktem Kopf von einer Schwelle zur nächsten. Ich hatte es nicht eilig, und ich hatte auch kein genaues Ziel, aber dann taten sich die Bäume auf, und bevor ich mich versah, stand ich auf dem ersten Bogen der Eisenbahnbrücke, hoch über dem Fluss. Die Sonne würde bald hinter den Bäumen versinken, und der Fluss strömte still und glatt dahin, verschwand hinter einer Biegung, schlängelte sich in Richtung seiner Quelle in den Bergen. Im verblassenden Sonnenschein spiegelten sich die rötlichen Wolken im Wasser, das lila- und orangefarben glänzte, und ich warf einen Blick über das Geländer auf die aus Stein erbauten Piers der Vorläufer dieser Brücke. Dort hatten früher gewiss andere ziellose Wanderer gestanden und etwas Ähnliches erblickt wie ich, hatten tief Luft geholt und auf das Wasser geschaut und ihr auf den Wellen tanzendes Spiegelbild betrachtet, und vielleicht war ihnen bei dem Anblick, der sich vor ihnen ausbreitete, schmerzhaft bewusst geworden, wie endlos weit die Welt war, in der sie ihr Leben verbrachten.
    Kurz darauf kündigte ein Beben der Schienen einen Zug an, und in der Gleisbiegung auf dem gegenüberliegenden Ufer blitzte ein Licht auf, vage und unbestimmt wie ein Stern während der Dämmerung, denn die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Ich glitt die steile, dreckige Böschung hinunter und setzte mich, sah zu, wie sich die schimmernde Silhouette des Zuges über die Brücke bewegte. Ich konnte die Fenster kaum erkennen, geschweige denn einen Blick in die Waggons werfen, wusste nicht, wie voll dieser Zug war, verspürte aber den Wunsch, mitzufahren. Der nach Süden fahrende Zug kam vielleicht aus D.C. Gut möglich, dass er Raleigh oder Asheville ansteuerte oder nach Westen abbog, in Richtung Roanoke und Blue Ridge Mountains fuhr. Ich überlegte, aufzuspringen, aber das ging nicht, denn vor dem Hintergrund des Himmels und der Lichter der weiter östlich gelegenen Stadt brauste der Zug als dunkler Schemen in den noch dunkleren Abend.
    Ein Wildwechsel führte auf dem Hang bis zum schlammigen, fast fünfzig Meter breiten und stellenweise mit Ulmen und Birken bewachsenen Ufer hinab. Der Fluss war mit kleinen Inseln gesprenkelt, die weiter draußen nur noch Streifen aus Sand und Geröll zwischen dunklen Wasserläufen waren. Der still dahinströmende Fluss war gut dreihundert Meter breit, und auf dem anderen Ufer zeichnete sich die Stadt vor dem Himmel ab. Sie war höher gelegen, eingekreist von weiteren Schienensträngen. Außerdem gab es die Reste eines Kanals, den Händler während der Kolonialzeit angelegt hatten, um den Hügelrücken zu durchstoßen, auf dem Richmond erbaut worden war. Und als ich, beschirmt von Birkenzweigen, am Ufer ein Feuer machte, schien es mir, als hätten sich ganze Kreisläufe umgekehrt, als wäre ich der einzige Mensch, der beobachtete, wie sich Richmond samt Umgebung durch das nächtliche Universum drehte.

    Als ich morgens erwachte, war das Feuer längst erkaltet. Es war später Vormittag, und der Sand, auf dem ich geschlafen hatte, erinnerte mich im hellen Licht an Sackleinwand. Das Treibholz, das ich in das Feuer geworfen hatte, war schwarz verkohlt. Aus einem Ghetto-Blaster auf einem Felsen mitten im Fluss, wo junge Leute in meinem Alter auf Handtüchern lagen oder lachend in die starke Strömung sprangen, drang Musik zu mir herüber. Ich konnte Luke erkennen, aber die anderen kannte ich nicht.
    Da ich nachts am schwelenden Feuer geschlafen hatte, war ich von Asche bedeckt und roch nach Rauch. Ich watete unter der Eisenbahnbrücke ins Wasser, wurde den Geruch jedoch nicht los. Ich erklomm wieder den Hügel, überquerte die gut dreißig Meter hohe Brücke. Ich ging ganz am Rand, wo die Schwellen direkt auf die Träger genietet worden waren, reckte ab und zu einen Fuß in das Leere. Unten lachten die jungen Leute, badeten im kühlen Nass. Der Tag war warm und klar, der Himmel über der Stadt strahlend blau. Am anderen Flussufer folgte ich den Schienen in Richtung Stadt, bog aber schließlich auf einen zum Wasser hinabführenden Pfad ab.
    Den Kanal zu überqueren,

Weitere Kostenlose Bücher