Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
Vom Netzwerk:
Böschungen verliefen. Die Bäume spendeten Schatten, da und dort fiel Licht durch das Laub. Die Hitze hatte sich während des Frühlings langsam gesteigert, hing als dichter Dunst über Schienen und Schwellen. Die Hitze des Atlantiks: schwül und voller Mücken und ganz anders als die Hitze in Al Tafar, die uns, nachdem wir ihr stundenlang ausgesetzt gewesen waren, ohne sie wirklich zu bemerken, urplötzlich überwältigt hatte. Hier wurde man gleich beim ersten Schritt aus dem Haus mit der Hitze konfrontiert, der Atem heizte sich unerträglich auf, sie war so erdrückend, dass sie etwas Stoffliches hatte.
    Wenn der Laden in Sicht kam, wartete ich am Waldrand, bis das rostige Heck des letzten, alten Pick-ups in der Ferne verschwunden war. Erst dann ging ich hin, mitten durch den aufgewirbelten Straßenstaub, trat zum Klang der Glocke durch die Schwingtüren. Schwer zu sagen, was ich empfand. Vielleicht Scham. Aber das war nicht alles. Nein, das Gefühl war spezieller. Jeder kann Scham empfinden. Ich weiß noch, dass ich im dichten, struppigen Unterholz auf der Erde saß, voller Angst davor, dass andere Menschen merkten, in wen ich mich verwandelt hatte. In dieser Gegend kannte mich zwar kaum jemand, aber ich glaubte, dass jede Person, der ich begegnete, instinktiv die Schande spürte, die ich auf mich geladen hatte, und umgehend über mich urteilte. Keine Einsamkeit ist schlimmer als jene, die durch eine besondere Geschichte ausgelöst wird. Das bildete ich mir jedenfalls ein. Heute weiß ich: Schmerz ist immer gleich. Der Unterschied liegt im Detail.
    Wenn ich wieder zu Hause war, das Hemd durchgeschwitzt und salzverkrustet, stellte ich das Bier weg und ging in die Küche, blieb dort lange stehen und betrachtete den über dem Teich aufsteigenden Dunst. Ich wollte den Beweis für mein Am-Leben-sein möglichst klein halten, er sollte nicht auffälliger sein als die Fußspuren, die ich auf dem feuchten Fußboden der Küche meiner Mutter hinterließ. Das Fenster bot einen Blick auf Straße und Bahngleise und den dahinterliegenden Wald. Jenseits des Waldes erstreckte sich das Land, zu dem ich gehörte, und immer so weiter, bis sich alles in etwas Größerem auflöste, bis das Haus meiner Mutter allen anderen Häusern glich. So hatte ich es einmal aus der Ferne empfunden, auf einem Hügel am südlichen Ende eines breiten Flusstals sitzend, so nahe am Gebirge, dass sich alle paar Jahre ein verängstigter Schwarzbär in die Wälder verirrte, so nahe am Meer, dass die ersten englischen Siedler auf ihrer Fahrt flussaufwärts bis hierher vordrangen, bis in dieses Tal, dessen geologische Beschaffenheit dafür sorgte, dass es zum Endpunkt ihrer Reise wurde, dass ihnen nichts anderes übrigblieb als zu sagen: »Wir haben uns verirrt; deshalb soll dies unsere Heimat sein.« Ja, dieses Tal war dem Meer so nahe, dass sich, als ich ein Kind war, Jugendliche mit den Worten über mich lustig gemacht hatten, ich könne mit ein bisschen Anstrengung das Salzwasser riechen, und ich, der ihnen glaubte, stand zwischen den Laternen und den Möwen auf dem Parkplatz von A&P und begann zu heulen, als ich merkte, dass sie recht gehabt hatten, obwohl sie mich eigentlich nur hatten verarschen wollen.
    Unser Haus stand oberhalb eines Teiches, in der Nähe eines jener Flüsse, die sich wie Stränge eines aufgeribbelten Taus bis zum River James hinabschlängelten. Auf der anderen Seite lag Richmond, in dessen Glastürmen sich an manchen Tagen Fluss und Wolken und auch die Stahlwerke mit ihren vom Rost zerfressenen Gleisanlagen spiegelten. Das Haus stand dicht an einem Steilhang, im Laufe der Jahrtausende vom Fluss erschaffen, der sich immer tiefer in die Erde gegraben hatte, schlangengleich durch die Landschaft wand.
    Nach meiner Heimkehr war mir alles fremd; alles erinnerte mich an irgendetwas anderes. Jeder Gedanke, der mir durch den Kopf ging, tastete sich nach außen und zog sich wieder zurück, verband sich mit einer Erinnerung nach der anderen, bis mir die Gegenwart entglitt. »Würdest du bitte den Zaun am Teich reparieren, Liebling?«, fragte meine Mutter gegen Ende des Sommers, als die Tage kürzer wurden, und ich ging mit Hammer und Krampen über den weitläufigen Hof zum Zaun, lehnte mich darauf, schaute auf den Teich, dessen Wasseroberfläche im warmen Wind kleine Wellen warf, und im nächsten Moment glitt ich durch die Zeit zurück. Wohin zurück? Zu nichts, zu allem. Das Gebell der Hunde, die sich im Schatten des Schamasch-Tores im

Weitere Kostenlose Bücher