Die Sonne war der ganze Himmel
Virginias begannen schon, sich spätsommerlich gelb zu verfärben, das Laub hing über Bach und Lichtung, ließ das Licht auf eine Art durch, die ich sehr gern mochte, und der Vormittag wirkte so verschwommen und weich, als wäre alles mit dünnem Stoff verhüllt.
Ich stieg das steile Lehmufer hinunter, balancierte über einen Baum, der über den Bach gestürzt war. Die Steine waren glitschig, aber nicht so weit voneinander entfernt, wie ich es in Erinnerung hatte, und die Überquerung fiel mir leicht, weil ich mich nach den Bieren des letzten Abends sehr vorsichtig bewegte. Ich kroch unter den vorspringenden Felsen. Dort war es noch kühl, obwohl es auf Mittag zuging, und ich spürte die Feuchtigkeit des Steins unter den Händen. Die Initialen J. B. waren ein halbes Dutzend Mal in die silberne Rinde einer Birke geschnitzt worden; alle Initialen waren unterschiedlich groß und durch das Wachstum des Baums unterschiedlich stark verzerrt. Ich kletterte zur Birke hinauf, strich mit den Fingerspitzen über die Schnitte. Ich konnte mich zwar nicht mehr daran erinnern, war jedoch überzeugt, dass ich sie in die Rinde geritzt hatte. Die Initialen J. B. waren natürlich nicht gerade selten, aber diese stammten eindeutig von mir, und ich musste lächeln.
Ich setzte mich vor die Birke und blieb dort, bis die Sonne über mir stand, bis das Licht in breiten Bündeln durch das Laub fiel, bis mir Schweiß über den Rücken lief, und beschloss, den Bahngleisen bis in die Stadt zu folgen – was sich vor allem dem Wunsch verdankte, meine Gedanken zu zerstreuen, denn ich musste unaufhörlich an Murph denken. Dann brach ich nach Hause auf, lief wie in Trance in die Richtung, in die meine Stiefelspitzen zeigten, versuchte, an nichts mehr zu denken, und nachdem ich die Veranda erreicht hatte, wischte ich mir den Schweiß von der Stirn, öffnete die Schiebetür, steckte ein paar Sachen in den Seesack und ging wieder.
Damals war es mir nicht klar, aber meine Erinnerungsarbeit war sozusagen fehlgeleitete Archäologie. Ich durchsiebte die Reste dessen, was ich über Murph wusste, und verdrängte so, dass eigentlich nur ein großes Loch übrig war, eine Abwesenheit, die ich vergeblich ungeschehen zu machen versuchte. Ich hatte nicht genug Material, um nachvollziehen zu können, was verschwunden war. Je mehr ich Murph in Gedanken rekonstruierte, desto stärker verblich das Bild, das dabei entstand. Mit jeder Erinnerung, die ich bergen konnte, ging eine andere unwiederbringlich verloren. Trotzdem hatte das Ganze eine Verhältnismäßigkeit. Es war, als würde ich Puzzleteile umgedreht zusammensetzen: Vertraute Formen, ein rasch verblassendes Bild, und die vergilbten Rückseiten der Teile schienen dem Wunsch nach einem geschlossenen Ganzen zu spotten. Ich dachte an die Zeit, als wir abends auf dem Wachturm gesessen und dem Krieg zugeschaut hatten, der in roten und grünen Lichtern und flüchtigen Blitzen an uns vorbeigezogen war. Murph erzählte damals von einem Nachmittag, den er im Obstgarten seiner Mutter verbracht hatte: Sie hatten Reiser auf Wurzelstöcke gepfropft, um die Bäume zu veredeln, hatten mit dem blitzenden Beschneidmesser hantiert. Er erzählte, dass sein Vater eines Tages mit einem Dutzend Kanarienvögel samt Käfigen aus dem Bergwerk nach Hause gekommen war, ein Anblick, der in Murph eine unerklärliche Ehrfurcht ausgelöst hatte. Sein Vater hatte die Vögel in der Senke freigelassen, in der ihr Haus stand, und nachdem sie eine Weile zwitschernd umhergeflogen waren, ließen sie sich wieder auf ihren in Reih und Glied aufgestellten Käfigen nieder. Murphs Vater war wohl davon ausgegangen, dass die Vögel niemals freiwillig in ihre Kerker zurückkehren würden, dass er die Käfige für andere Zwecke würde nutzen können: Um Gemüse darin zu lagern, um sie, mit einer Kerze darin, zwischen den Bäumen aufzuhängen, und als sich die Vögel auf ihre Käfige setzten und verstummten, wurde dem staunenden Murph bewusst, wie seltsam still der Lauf der Welt war. Ich versuchte, mich an ihn zu erinnern, bis ich innerlich leer war – eine Leere, die, wie ich bald begriff, meine einzige Gewissheit bleiben sollte –, bis Murph nur noch eine Skizze im Schatten war, ein zerfallendes Skelett, bis mein Freund kein Freund mehr war, sondern der fremdartigste Fremde, dem ich je begegnet war. Mein Verlustgefühl wurde zu einem Grab, das weder aufgefüllt noch eingeebnet werden konnte, das nur ein hässlicher Fleck auf irgendeinem Feld und
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