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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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ich überzeugt war, dass sich das Universum in Anbetracht eines Ereignisses von so dramatischen Ausmaßen als sinnlos und leer erweisen musste, und wenn ich jemals wieder in meinem Fluss schwimmen sollte, weiter draußen, wo mir das Wasser bis zum Hals reichte, wo meine Füße den schlammigen Grund nicht mehr berührten, dann würde ich vielleicht begreifen, dass man bei dem Versuch, die Welt und den eigenen Platz darin zu verstehen, das Ertrinken riskiert.
    Noctiluca
, dachte ich,
Ceratium
, als die Leuchtspurgeschosse das staubige Zwielicht zerrissen, zwei Wörter, auf einem Schulausflug an die Küste Virginias gelernt, die mir wieder einfielen, als ich auf den Mann feuerte. Damals schenkte ich derartigen Assoziationen keine Beachtung, ignorierte die winzigen Entladungen, die solche Gedanken aufblitzen, dann wieder erlöschen, dann noch einmal aufblitzen lassen. Das flüchtige Bild eines jungen Mädchens, im Hafen neben mir sitzend, während die Dämmerung einsetzte, das Knallen, mit dem ich die Leuchtspurmunition verschoss, der Mann, der sich kriechend von seiner Waffe entfernte, bis er nicht mehr konnte, bis er zusammenbrach. Murph und Sterling eilten herbei und bezogen neben mir Stellung, und wir legten neue Magazine ein und feuerten auf die Leiche, bis die Kleider von Blut troffen, bis das Blut des Toten über die niedrige Böschung in den Fluss strömte, bis er ausgeblutet war.
    »Geschafft, Privates. Wer heil nach Hause will, muss gründlich sein.«
    Ich stellte das Feuer ein, senkte den Kopf. Mein Gewehr lag in meinem Schoß. Ich hatte mein Bestes gegeben. Ich sah zu Sterling. Er wirkte entspannt. Was, fragte ich mich, konnte er jetzt noch tun, wohin würde er uns führen? Aber die eigentliche Frage lautete wohl: Was konnte
ich
jetzt noch tun?
    Wir ordneten uns neu. Eine Durchzählung ergab, dass bis auf einige, deren Trommelfelle bei der Explosion geplatzt waren, niemand verwundet worden war. Wir kehrten dorthin zurück, wo wir vor dem Gefecht gestanden hatten, warteten auf die Quick Reaction Force. Ein feuchter Fleck zeugte noch von der Leiche, deren Einzelteile überall verstreut waren. Einige waren winzig, zum Beispiel jene, die wir vor unseren Füßen entdeckten – Hautfetzen, Teile innerer Organe, Muskelstücke –, andere größer, zum Beispiel der abgerissene Arm oder der hinter uns liegende Teil eines Beines. Niemand sprach. Wir versuchten im Stillen, die letzten Momente im Leben dieses in Stücke gerissenen Mannes nachzuvollziehen, sahen ihn vor uns, als er sich wand, um sein Leben bettelte, Allah anflehte, ihn zu befreien, bis er am Ende begriff, dass er verloren war, bis man ihm die Kehle durchschnitt, bis er würgend am eigenen Blut erstickte.
    Sie hatten diesen Mann gegen seinen Willen in eine Waffe verwandelt. Sie hatten ihn gefangen genommen und getötet und seine Bauchhöhle mit Sprengstoff vollgestopft, den sie, sobald wir nah genug waren, zur Explosion gebracht hatten. Danach hatten sie angegriffen. Als die Quick Reaction Force eintraf, mussten wir die Brücke räumen.
    »Murph! Bartle!«, rief Sterling.
    Wir holten Greifklauen, um die größeren Leichenteile auf Sprengstoff zu untersuchen. Murph schob das Gerät über eine niedrige Mauer, bewegte es hin und her und zog dann ruckartig. Danach gab er mir durch einen Blick zu verstehen, dass ich an der Reihe sei. Diesen Vorgang wiederholten wir mehrmals, und als wir die Gewissheit hatten, dass keine Explosionsgefahr mehr bestand, stieg ein Offizier aus seinem Fahrzeug und erklärte die Brücke für gesichert.
    Während wir weiter durch die Stadt marschierten, begannen die Menschen zu zweit oder zu dritt zurückzukehren, um ihre Toten zu bestatten. Ich hörte, wie der Muezzin rief, und der Sonnenuntergang tauchte die Stadt in sein mildes Licht, rot und purpurfarben.

Sieben August 2005
    Richmond, Virginia
    In jenem Frühling schlief ich ganze Tage, ja Wochen durch, dämmerte bis weit in den Nachmittag, bekam keine Menschenseele zu Gesicht. Wenn ich zufällig wach wurde, hörte ich den Bus, in den weiter unten auf der Straße Schüler aller möglichen Jahrgangsstufen ein- und ausstiegen, und die Stimmlage der Kinder verriet mir die Tageszeit.
    Obwohl ich noch nicht lange zu Hause war, hatte ich schon stark abgebaut. Mein einziger Sport bestand darin, jeden Nachmittag die zwei Meilen bis zu G. W.’s Kramladen zu gehen, um Bier zu kaufen. Ich mied die Straßen, hielt mich an die Bahngleise, die zu beiden Seiten unseres Hauses hinter niedrigen

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