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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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zu denen sie fähig waren, drückten sie Mrs Murphy eine Karte mit der Adresse und Telefonnummer des Hotels in die Hand, in dem sie eine Wetterbesserung abwarten wollten. Bei Fragen, sagten sie, könne sie jederzeit anrufen.
    Während sie erzählte, überlegte ich, wo ich mich zu jenem Zeitpunkt aufgehalten hatte, aber die Zeitverschiebung machte mir einen Strich durch die Rechnung, und ich konnte ohnehin nicht mehr zwischen den vielen frühmorgendlichen Patrouillen unterscheiden, die wir nach Murphs Tod gelaufen waren. Sie sagte, sie habe stundenlang an einem Fleck gestanden. So lange, dass ihre Körperwärme den auf dem Fenster liegenden Schnee geschmolzen, den Umriss ihrer Gestalt in die dünne Eisschicht gemalt habe. Als sie sich endlich wieder bewegt habe, sei es fast Abend gewesen. Sie sei durch die offene Hintertür gegangen und habe Mr Murphy entdeckt, mitten im Schnee sitzend, der bis zu seinen Hüften gereicht, sich wie ein Leichentuch auf Hut und Schultern gesammelt habe. Sie habe sich zu ihm gesetzt, und sie hätten schweigend dagesessen, bis zum Anbruch der Nacht, bis es noch stärker geschneit habe.
    Als sie ihren Bericht über jenen Tag beendet hatte, war der Kaffee kalt geworden, sein warmer Dampf verflogen. Gedankenverloren leerte Mrs Murphy unsere zwei Kaffee in einen dritten Becher, den sie mir reichte.
    »Ich wollte nicht, dass es so endet«, sagte ich.
    »Was Sie wollten, tut jetzt wohl nichts mehr zur Sache.«
    »Nein. Sie haben recht.«
    Die Army hatte ihren Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit ins Leere laufen lassen, ihren Wunsch nach einer Erklärung dafür, dass Murph so kurz nach der Vermisstenmeldung für tot erklärt worden war. Keiner der Gründe, die man ihr dafür genannt hatte, hatte sie zufriedengestellt. Die Army wusste, dass die Öffentlichkeit den Schmerz dieser Frau in Kürze vergessen würde, und eine abschließende Kosten-Nutzen-Analyse würde zeigen, dass man sie billig abfertigen konnte. Die Geschichte ihres Kampfes war längst aus dem Fernsehen verschwunden, bestenfalls noch in der Boulevardpresse zu lesen, samt reißerischer, absurder Schlagzeilen und Fotos, die sie auf einem Schaukelstuhl zeigten, eine Zigarette im schmalen Mund. Nachdem ihr niemand mehr zugehört hatte, ließ sie sich auf einen Vergleich ein, der eine Erhöhung von Murphs Lebensversicherung und meine Verurteilung umfasste. Das Land vergaß ihre kleine Geschichte, wandte sich rasch dem Leid anderer zu, und sogar ihre Freundinnen rieten ihr mit einem mitleidigen Lächeln: »Du musst deine
eigene
Wahrheit in diesem ganzen Schlamassel finden, LaDonna.«
    Das erzählte sie mir jedenfalls. »Als müsste meine Wahrheit anders sein als Ihre, als hätten Sie eine Wahrheit und ich eine andere gepachtet. Was zur Hölle soll das sein, die
eigene
Wahrheit?«, fragte sie.
    Ich wusste es nicht. Wir schwiegen beide, aber das schien sie nicht zu stören.
    »Ich wünschte, er wäre nie von zu Hause weggegangen«, sagte Mrs Murphy und betrachtete mich eine Weile. »Und Sie? Haben Sie Pläne für die Zeit nach der Entlassung?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. Was aus mir werden sollte, hatte mich nie interessiert, obwohl ich diese nicht ganz unwichtige Entscheidung ausnahmsweise selbst treffen konnte. Ich war überzeugt, mich am Ende richtig zu entscheiden, obwohl ich mich mit schöner Regelmäßigkeit falsch entschieden, immer nur auf das Nichts meiner Erinnerungen zurückgeblickt hatte. Ich verbockte es jedes Mal. Ich wusste nur, dass ich mir irgendeine Form von Normalität wünschte. Wenn ich schon nicht vergessen konnte, wollte ich wenigstens vergessen werden.
    Ich war froh über ihren Besuch. Nicht, weil es zu einer unerwarteten Versöhnung gekommen wäre, sondern weil sie tolerant war. Sie wollte verstehen, was ihrem Sohn passiert war, warum ich ihr einen gefälschten Brief geschickt hatte. Ich war der letzte Zeuge des Todes ihres Sohnes. Inzwischen war er nur noch Staub, aber das war das unabwendbare Schicksal eines jeden Menschen. Vermutlich waren alle Worte, mit denen ich es ihr zu erklären versuchte, dürftig im Vergleich zu dem, was ich gesehen hatte. Aber ich fand es gut, wie sie auf meine Erklärungen reagierte, die ebenso unzusammenhängend waren wie die Zeichen an den Wänden meiner Zelle. Wie es in ihrem Inneren aussah, wusste ich nicht; ihr Gesicht hatte noch den stumpfen Glanz des Verlustes, war gezeichnet von den vielen Gefühlen, die sie bändigen musste. Unser Gespräch dauerte geschlagene sechs

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