Die Sonnenposition (German Edition)
zuständig, die Patienten bilden den Stuhlkreis, das Küchenpersonal löst den Stuhlkreis wieder auf. Frau Dr. Z. findet das bourgeois und tröstet sich damit, daß auch das Küchenpersonal zum Teil aus Patienten besteht, die dort Hilfsdienste verrichten, ich hingegen glaube, daß die Gespräche im Kreis größere Effekte zeitigen, wenn zu einemstillen, besinnlichen Ende gefunden wird, alle in stummer Andacht auf ihre Zimmer gehen und das Geschehene nachwirken lassen können, ich glaube, daß ein neuerliches Schieben der Tische und Umsetzen der Bestuhlung, mit dem damit verbundenen nervenzerrüttenden Quietschen, Ratschen und Poltern, der lärmenden Sperrigkeit alle guten Ansätze sofort wieder zunichte macht. Die Ruhe des Kreises soll bis zuletzt bleiben: So viel Luxus muß sein.
Bevor ich die Medikamentenpackungen aufsammele, alles zurück an seinen Platz stelle, werte ich den nächsten Anamnesebogen aus. Ich gebe mir Mühe, zu klaren Ergebnissen zu kommen, denn ich muß die Diagnose mit Frau Dr. Z. besprechen. Sie hält nichts von Vagheit, nichts vom Wahrscheinlichkeitscharakter einer Störung, sie mutmaßt nicht.
Etwas später verlasse ich mein Büro, die Diagnosen säuberlich unterm Arm, und stoße fast mit dem Patienten B. zusammen. Ich sehe es an seinem Mienenspiel, erst erschreckt, dann ertappt, dann verärgert, daß er an meiner Tür gelauscht hat. Tablettenschachteln, die gegen die Wand klatschen, können recht laut werden, und ich zucke selbst zusammen bei dem Gedanken, er könnte Frau Dr. Z. petzen, daß der Arzt Janich seinen Patienten den Podex versohle. Ich räuspere mich und sage zu Herrn B., daß ich mir nichts vorzuwerfen habe. Ich räuspere mich und teile ihm mit, daß in fünf Minuten die Sport- und Entspannungsstunde beginnt, an der er sonst immer teilnimmt. Herr B. setzt sich verstockt auf einen der Wartestühle in meinem Korridor und macht keine Anstalten, sich zum Sport zu begeben. Dabei hat er bereits Sportkleidung angetan, einen Trainingsanzug mit Reflektorstreifen, die im schummerigen Korridor markante Signale aussenden.
Biolumineszenz war die große Leidenschaft von Odilo. Von ihm weiß ich sehr genau, zu welchem Behuf die lebenden Wesen Leuchtmittel einsetzen. Beim Anblick von Herrn B. höre ich wieder Odilos dozierende Stimme, und ich rattere vor mir selbst pflichtschuldigst die verschiedenen Funktionen herunter, als könnte ich Odilo damit Ehre erweisen.
Fünffacher Grund der Biolumineszenz:
1. Anziehen eines Geschlechtspartners
2. Schutz – Täuschung – Tarnung
3. Abschreckung – Warnung – Blendung
4. Anlocken von Beute
5. Orientierung – Wegbahnung
Im Fall von Herrn B. dient die Reflexionsfolie vor allem der Selbsttäuschung, wie ja die meisten von den Patienten angestrengten Maßnahmen der Tarnung, Täuschung und Selbsttäuschung dienen. Es ist offensichtlich, was ihn daran fasziniert. Jemand, der sich seiner Mängel zu bewußt ist, der sich schutzlos und dünnhäutig, häßlich und sterblich fühlt, hat selbstverständlich ein Interesse daran, größer, schrecklicher, giftiger und gefährlicher zu scheinen (Punkt 3), hat den Wunsch, sein Ungenügen an sich und der Welt zu kaschieren (Punkt 2), die eigene Unscheinbarkeit und Entfremdung in einen künstlichen Nimbus zu verwandeln (Punkt 1). Tatsächlich scheint Herrn B.s Körper im Korridorhintergrund zu verschwimmen, während sich die Leuchtstreifen in den Vordergrund drängen und die Blicke auf sich ziehen. Ihm mag es sogar bei der Orientierung (Punkt 5) helfen, wenn er glaubt, daß sich sein zersprengtes Ich hinter einem grellen Gitter verbirgt; ein leuchtender Käfig, in dem die Persönlichkeitsanteile toben.
Im Normalfall strebt ein leuchtendes Lebewesen nur einen vorrangigen Nutzen an und arbeitet nicht die gesamte Liste ab. Glühwürmchen beispielsweise leuchten, um einander zum Zwecke der Fortpflanzung leichter zu finden. Herr B. ist einFall, der praktisch alle Anwendungen abdeckt. Und was den Punkt 4, Anlocken von Beute, betrifft, muß ich mir redlicherweise die Frage stellen, ob es sich bei der Beute etwa um mich handeln soll.
Ich schließe etwas zu demonstrativ die Tür zum Therapiezimmer ab, ich sehe währenddessen über meine Schulter auf die Reflexionsfolie, die unstet durch den Raum zieht wie die Flugbahnen eines Leuchtkäferschwarms.
Dann nicke ich Herrn B. noch einmal freundlich, aufmunternd, vorwurfslos zu und begebe mich zur Sitzung mit Frau Dr. Z.
Wie war die Beerdigung? fragt Frau Dr. Z., und
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