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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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er trug einen Siegelring, den er von seinem Großvater geerbt hatte, er bohrte versunken an einer Stelle, wo das Furnier fehlte, und es gelang ihm tatsächlich, ein wenig von der Preßspanplatteherauszubröseln. Spätpubertärer Vandalismus? Eher schien es mir eine Demonstration, wie marode in seinen Augen diese Gaststätte bereits war. Bedurfte es überhaupt noch der Bagger, wenn dieser Tisch, ohnehin bar eines Tischtuchs, nicht einmal solide genug war, einer selbstvergessenen Berührung standzuhalten?
    Ich müsse es ihm nicht sagen. Er wisse es selbst. Am Ende sei es natürlich ein Gottesproblem. Nachdem er sich nur noch auf sich selbst verlasse, also jegliches Gottvertrauen eingebüßt habe, nachdem er sich Gott folglich so zum Problem gemacht habe, fürchte er sich davor, daß Gott ihn im Schlaf betrachte. Daß Gott ihn in einem Moment des Kontrollverlusts überrasche.
    Die drei bis vier Stunden, die er schlafe, falle er in eine traumlose Bewußtlosigkeit, in eine Art Koma, falle er praktisch ins Nichts. An das Einschlafen, das Aufwachen habe er keine Erinnerung, er werde in diese Sphäre gerissen, und dort sei eben wirklich – nichts. Das Leben sei sein Traum, sein ewiger Wachtraum. Im Wachzustand halte er daher alles für möglich. Begebenheiten ohne Grund, ohne Wirkung. Traumlogik. Das menschliche Vermögen sei gewaltiger, als gemeinhin angenommen werde. Und vernünftige Ziele ließen sich mit etwas Disziplin erreichen wie im Traum.
    Er wandte sich zu den ausgestopften Auerhähnen neben uns und strich anerkennend über das Gefieder. Staub stieg auf. Sank auf die Bälge zurück. Schöne Vögel, sagte er.
    Wir traten auf die Straße, die engen Wände strahlten Wärme ab, so empfand ich es zumindest, obgleich es kein sonniger, auch kein warmer Tag gewesen war, sie strahlten dennoch habituell Wärme ab, gefühlte Wärme, Lebenswärme, es roch nach Gurkensalat in dieser Straße, die in vollständiger Geräuscharmut da lag, keine Schritte außer den unseren, keine Fahrzeugeaußer in einer nicht mehr dazugehörigen Ferne, ein Windstoß pfiff durch den engen Straßenkanal und ließ Geranienzweige wippen, ließ feuerrote Blütenblätter an dem schwarzroten Backstein vorüber auf den Bürgersteig fallen, dessen Breite genau eine Platte betrug, nicht mehr als ein Gartenpfad entlang der Straße, dann ließ jemand irgendwo donnernd einen Rolladen herunter.

II Patientia oder Das Ostschloß

9 Anstaltskost
    Muß es sein? Müssen sie die Apfelsinen, die als Nachtisch vorgesehen sind, in abgeschabten Spülschüsseln präsentieren? Der Zivildienstleistende fährt den Teewagen herein, vollbesetzt mit Plastikgerät, der Art, wie wir es zu Hause verwendeten, die Hände in Schaum getaucht, die Haut im heißen Wasser gerötet, unverwüstliche Schüsseln, eckig, mit Griffen. Der Zivi wuchtet eine von ihnen herunter und geht damit die Tischreihen entlang. Jeder darf sich eine Apfelsine nehmen. Die Patienten greifen gierig zu, so gierig wie zögerlich betasten sie jede einzelne Frucht, wenden sie um und um, wählerisch wie auf dem Markt. Der Nachtisch ist ihnen wichtig, sie leben den ganzen Tag auf den Nachtisch hin, und nur allzuoft ist gerade der Nachtisch eine Enttäuschung.
    Herr V. wirft seine Frucht locker von einer Hand in die andere, dann legt er sie, offenbar für zu leicht befunden, zurück und nimmt sich eine neue. Der Zivi hält die Spülschüssel mit Engelsgeduld. Auf der Höhe von Frau H. stemmt er den Turnschuhfuß gegen eine Strebe ihres Stuhls und stützt die Last mit dem Knie. Frau H. möchte die Apfelsine in Seidenpapier, die ganz unten liegt. Durch die Hohlräume hat sie das weiße Papier blinken sehen und gräbt jetzt alles um. Sie zieht ihre Beute brachial heraus, erst das angerissene Papier, dann die Orange, die sie für die dazugehörige hält. Herr P. entnimmt eine der Kugeln mit seinem Stofftaschentuch und beginnt sie zu polieren, so wie er gestern stundenlang den Apfel blank rieb, nur daß das Wienern bei Zitrusfrüchten nichts nützt. Gestern hat er den Apfel so zum Strahlen gebracht, daß er ihn nichtmehr zu essen vermochte. Nach langem Über-die-Schulter-Beugen-und-gut-Zureden überzeugte ihn der Zivi, der als einziger Herrn P.s Vertrauen genießt, das Innere von der Schale zu trennen. Schließlich begann Herr P. tatsächlich damit, den Apfel vorsichtig zu schälen. Die Schalenspirale, ein einziges Stück in hauchfeinen Windungen, hat er mit auf sein Zimmer genommen, wo es erst heute morgen, schrumpelig

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