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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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ihren benutzten Teller, auf die Kartoffelbrei-und-Soße-Spuren gelegt und sägt durch Schale und Fruchtfleisch, den Verlauf der Segmente nicht achtend. Was sie erhält, sind Pyramiden mit gerundetem Fuß, und von diesem schaukelnden Schalenfuß zieht sie mit den Zähnen das Fruchtfleisch herunter. Sie kaut. Es klingt, als äße sie Chips, Kekse, etwas Hartes, sie demonstriert, daß die Kiefer eine Orange zerquetschen, aufsprengen, zerbeißen müssen, während man doch irrtümlich glaubt, es handele sich nur um ein leichtes Anpressen der Zunge, ein Herausdrücken des Saftes aus einem überprallen, nachgiebigen Objekt.
    Heutzutage erwartet man von den Patienten, daß sie mit Hilfe eines Obstkorbes die Familiensituation als Stilleben nachstellen. Frau H., die von Anfang an opponierte, aber auch in einemschon krankhaften Grad phantasielos wirkt, sah sich in der Sitzung außerstande, sich selbst als Frucht zu imaginieren, schon gar nicht ihren Vater. Sie sah mich an, wie eine vernünftige, nüchterne Person jemanden ansieht, den sie für wahnsinnig hält: etwas mitleidig, etwas angeekelt, etwas gelangweilt, vor allem gelangweilt. Ich hütete mich, ihr Vorschläge zu machen. Als Kompromiß bot ich an, sie solle eine Frucht aussuchen, die mich darstellen könnte.
    Ihr Ekel nahm zu. Mit spitzen Fingern hob sie eine Banane aus dem Korb, eine Nuß, eine Pflaume. Ob ich sicher sei, daß das etwas bringe? Sie bekomme ihr Leben nicht in den Griff, und ich wolle unbedingt ein Stück Obst sein?
    Nun, sagte ich, sie möge doch bitte alle Anzüglichkeiten, die ihr bei den einzelnen Früchten einfielen, zunächst vergessen. – Warum sagte ich das? Warum brachte ich Anzüglichkeiten ins Spiel? Sie dachte daran nicht einmal. Sie war auf eine beinahe unschuldige Weise unvoreingenommen. Sie hatte nichts gegen Obst, sie wollte das Problem mit ihrem Typ lösen und erwartete von mir Ratschläge, Anleitungen, Anweisungen, zur Not Befehle, sie war entschlossen, sich an alles zu halten, was ich vorgab, sie war bereit, Opfer zu bringen, Unangenehmes durchzustehen, sie war auf Härten jeder Art gefaßt, aber sie wollte nicht spielen.
    Ich hingegen interessierte mich während meiner Ausbildung stets dafür, Obst zu sein. Banane sein: weich und glitschig und pelzig schmeckend. Ein Apfel, fest und süßsauer und hochempfindlich bei Druck. Es kam mir ganz natürlich vor, wie eine Kindheitserinnerung, manchmal war man müde, manchmal fühlte man sich bananenhaft, oder erdbeerig, hatte man solche Zustände nicht immer schon gekannt?
    Seit ich im Schloß wohne, halte ich mich gerne für eine Orange. Besser noch für eine Pomeranze, prachtvoll und bitter, eine Frucht aus dem Reich der Mitte, dem Land der aufgehenden Sonne, perfekt gerundet, relativ stoßfest, von einer in sich ruhenden Fülle, einer positiven Pracht.
    Ich selbst bin füllig. Nicht unangenehm dick, allerdings füllig in einem Ausmaß, das mir den Patienten gegenüber Imposanz verleiht. Auch eine gewisse Standfestigkeit. Mein Körperfett puffert die unangenehmen Gefühle, die die Patienten zu mir herüberschieben, ich nehme sie wahr, aber sie erreichen mich nicht im Kern, von dem ich mir einbilde, daß ich über einen solchen verfüge. Mehrere Kerne, eine Menge von Kernen, in den Saftschläuchen gelagert und gut versteckt. Ich bin gefeit, anders läßt sich dieser Beruf nicht ausüben. Ich konzentriere mich nach innen hin, ich falte mich ein: Bauchfalten, Speckrollen, Hautpartien, die sich berühren, ein Leib in Segmenten, der sich selbst permanent liebkost. Dadurch fühle ich mich autonom. Dadurch besitze ich das Entscheidende, das, was den Patienten ausnahmslos fehlt.
    Apfelsine, Sinaasappel, Apfel aus China, der in unserem chinesischen Teezimmer an seinen natürlichen Ort gelangt. In der Tat fühle ich mich immer wohl zwischen den Porzellanimitaten, den billigen Vasen und Teekannen und kranichbemalten Tellern aus dem Asienladen, von irgendeinem Gutmeinenden herbeigeschafft und museal auf Blumenständern ausgestellt, da die echten Stücke in den Wirren der Geschichte geraubt wurden. Im Teezimmer hängt noch die importierte Seidentapete, Blütenzweige und mottenzerfressene Vögel, Mode der Chinoiserie. Ich stehe manchmal in der Mitte, rieche die muffig zerfallende Seide und den Räucherstäbchenduft, der den Dingen aus dem Asienladen in alle Ewigkeit anhängt, ich stehe dort zu Zeiten, in denen mich niemand überraschen kann, und ich imaginiere dort die Vollkommenheit einer

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