Die Sonnenposition (German Edition)
und braun, entfernt worden ist.
Selten konfrontiert die Küche unsere Patienten mit einer vollständigen, noch zu handhabenden Frucht. Oft ist das Obst vorverarbeitet, recht häufig gibt es Kompott: eingeweckte Pflaumen oder Kirschen, Apfelmus. Meist allerdings haben wir Fruchtimitat in Form von Götterspeise, gerührt aus einem Pulver, das das Aroma von Kirschen nachahmt. Götterspeise ist höchst unbeliebt und wird als Dessert nur unter größtem Vorbehalt gelten gelassen. Dies liegt daran, daß zu viele andere Speisen ebenfalls dieses Göttrige aufweisen, die glibbrige Durchsichtigkeit, das formlos Ungreifbare.
Es beginnt morgens mit der Marmelade. Man portioniert sie kellenweise, aus dem 5-Liter-Eimer wird sie mit der Suppenkelle in gläserne Schälchen geklatscht, wo sie nachzittert, die Formung der Kelle aber nicht verliert. Glänzende Wölbung dieser Morgenmarmelade, Aurorarot: Immer ist es Vielfruchtmarmelade, mal scheint der Erdbeeranteil etwas höher, mal der Aprikosenanteil, die Farbe bleibt gleich. Nicht stückig, aber auch nicht Gelee, dazu ist sie wiederum zu sämig; nie behauptet sich diese Marmelade als etwas Eindeutiges, sie bleibt ein Kunstprodukt, dessen Inhaltsstoffe niemand kennt.
Die Insassen schneiden mit dem Teelöffel behutsam Stücke aus der Gallertmasse, kippen sie auf ihre Brotscheibe, zerdrücken sie mit dem Messer, jeden Morgen als erstes diese quallenschinderische, höchste Konzentration erfordernde Operation.
Abends abermals Quallenhaftes, quadratische Sülze. DieScheiben dienen als Schaukästen für Fasern von Hühnerfleisch, für aufgeschnittene Erbsen, einen haarfeinen Hauch von Blumenkohl. Brotbelag als Objektträger – ein Transparentscheibchen, das wie die Quallen nach Salzwasser schmeckt, schließt seine Beute ein. Es ist eine unverblümte Resteverwertung, das Mittagessen vom Vortag läßt sich in der Sülze wiedererkennen. Diese unerbittliche Ordnung, auch Sparsamkeit, die darin liegt, die demonstrative Regelhaftigkeit gefällt mir noch am besten. Wir alle können angesichts der durchsichtigen Strukturen, des eingekapselten Gestern wenigstens für die Dauer einer Mahlzeit etwas lockerlassen, denn eine Instanz außerhalb unserer selbst hat die Dinge, hat die Zeit im Griff.
Ansonsten Lebensmittel von wabbeliger Konsistenz, vor dem Messer zurückweichende Speisen. Zähes Püree, puddinghafte Soßen, durchscheinender Harzer Käse. Speisen, mittels deren hier der Rückzug von der festen Materie angedeutet wird, das Dahinschwinden des Massiven, der Verfall jedes Widerstands. Speisen, angesichts deren es uns so scheinen muß, auch wir selbst seien nichts als eine zurückweichende Masse, seltsam inhaltslos, beliebig verformbar, von jedermann leicht zu durchschauen.
Jetzt die Orangen: Sie lösen eine andächtige Stille, beinahe Ehrfurcht aus, als handele es sich um Qigong-Kugeln, deren innerem Klang man lauscht.
Ich sitze mit den Pflegern und Frau Dr. Z. am Ärztetisch. Von hier aus sehe ich, wie der Zivi mit dem Apfelsinenhügel in der Schüssel von einem zum anderen geht und wie der Hügel seine Kuppe verliert und verflacht.
Ich sehe den Hügel in eigenartig hoher Auflösung, jeder einzelne Lichtpunkt auf den wächsernen Wölbungen scheint sich mir persönlich mitzuteilen, verschwenderisch wie ein sprachlicher Überfluß, ein sich selbst rühmender Hügel, der schon wieder ortlos wird in seiner Überschärfe.
Ich meine Tafelmusik zu hören, die die gemessenen Zivischritte umspielt und die langwierigen Auswahlprozesse beschwingt. Nach dem Verzehr der Frucht, so hält er die Patienten an, sollen die Orangenschalen von jedem einzelnen Teller in die leeren Plastikschüsseln auf dem Teewagen geschabt werden, bloß nicht die Teller mit den Obstschalen darauf ineinanderstellen, nicht warten, bis alles festgeklebt ist, der Küche den Ablauf erleichtern.
Es beginnt die Arbeit an der Schale. Verhornte Fingernägel brechen Fetzen ab. Lange Spiralstreifen winden sich von stumpfen Messern wie auf einem niederländischen Gemälde. Manche Schale erhält Einschnitte vom Blütenansatz zum Stiel und löst sich in den Spitzovalen, die sich die Kinder zu Karneval als falsches Gebiß in den Mund schieben. Die Frucht von Herrn P. zerfällt in hauchdünne runde Scheiben, von denen nur die äußerste wächserne Schicht entfernt ist. Die wattige Albedo bleibt dran und wird mitgegessen.
Von meinem Platz aus sehe ich, wie Frau H. ihre Apfelsine halbiert, dann viertelt, dann achtelt. Sie hat sie auf
Weitere Kostenlose Bücher