Die Sonnenposition (German Edition)
Raum. Der Ort muß, damit es spannend bleibt, unbetretbar sein. Muß uns hinhalten mit seiner immer gleichen Äußerlichkeit, seiner unberührbaren Tiefe, deren Vorzüge wir nicht akzeptieren wollen. Ein Ort von erhöhter Brisanz. Kein Ort, eine Fläche. Die dann Falten wirft, Gegenstände entfaltet, abwegige Rationalisierungen nachvollzieht, den barocken Falten des Denkens folgt. Wir driften vorsichtig in eine Richtung, verräumlichte Stoffbahnen, fort ins Unendliche. Vorhänge werden auf- und zugezogen. Tischtücher ausgebreitet, beschmutzt, gewaschen, zusammengelegt und in den Schrank geräumt. Kleiderstoffe häufen sich auf den Stühlen, hängen seitlich von den Sitzen herab, legen sich als Hussen über das Möbelstück. Servietten behalten die eingebügelten Knicke.
Patientenfragmente erscheinen während der Mahlzeiten, ein um das Stuhlbein geklammerter Schenkel, eine Hand, die immer dieselbe Bewegung ausführt, Puzzleteile. Spiegelsaal der Seele: Darauf beruhen die Störungsbilder der Patienten, auf dem Trumpf eines inneren Abgrunds, Triumph des Traums.
Regeln der Gegenwart: Im Alter von 22 bis 28 Jahren findet nach den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie die Integration in die Gesellschaft statt. Dies geschieht durch Partnerwahl und die Aufnahme einer Berufstätigkeit.
Ich bin jetzt 32 Jahre alt. Meine Integration in die Gesellschaft kann durch die Aufnahme einer Berufstätigkeit als erfolgt gelten, allerdings steht die Partnerwahl noch aus. Muß deshalb, frage ich mich, mein Verhältnis zu den Patienten als eine Ersatzliebe gelten? Als eine verzweifelte, düstere, deutlich herabgedimmte Liebe, die nach allen Regeln der Entwicklungspsychologie letztlich ungültig ist? Kann meine Situation im Schloß, frage ich mich außerdem, als normaler Lebenslauf gelten, da es ohne die Wende niemals dazu gekommen wäre? Die Wende hat stattgefunden. Orte haben sich verschoben, Biographien sind gebrochen. Jetzt ist es unsere Aufgabe, diese Einrichtung nach den Maßstäben der bundesdeutschen Psychiatrie neu aufzubauen.
Irrenarzt, war es meinem Vater herausgerutscht. Ein unpassendes Wort, der Erregung des Augenblicks geschuldet, aber es war ausgesprochen, und dabei blieb es. Warum tust du uns das an, hatte er gefragt, warum nicht wenigstens dies oder das, etwas Anständiges.
Irrenarzt, hatte mein Vater in einem unbeherrschten Moment am Frühstückstisch gesagt, Irrenarzt in einer Schloßruine!
Mit meiner Berufswahl bin ich aus der Familie ausgeschert. Arzt hätten sie ohne weiteres gelten gelassen, aber mit Irrenarzt überschritt ich zweifellos eine Grenze ins Ungehörige, Liederliche und Verruchte. In unserer Familie galt die Furcht vor Übertragung. Wer mit problembeladenen Personen Umgang pflegte, zog diese Probleme unweigerlich auch auf sich selbst, und in dieser Logik konnte die vielbeschworene christlicheNächstenliebe nur darin bestehen, durch Materialspenden die Probleme aus der Welt und für sich selbst Abstand zu schaffen. Leute, die nicht zurechtkamen, packten nach Ansicht der Familie das Leben falsch an, sie gaben sich nicht hinreichend Mühe und beharrten auf einer fragwürdigen Unangepaßtheit, es waren Leute, deren Problem darauf zurückzuführen war, daß sie sich an der entscheidenden Stelle den gesellschaftlichen Pflichten verweigerten. Neben dieser Ansteckungsangst, die einen sozialen Beruf im Grunde indiskutabel machte, bestand ein ausgesprochener Widerwillen gegen Fragen der Seelenkunde. Psychologie durfte es nach Ansicht der Familie nicht geben, psychische Krankheiten wurden nicht gelten gelassen. Im Zweifelsfall helfe Arbeit, zweitens Heirat, drittens das Gebet. Alles andere ein egoistisches Querschießen, ein sich Hineinsteigern ins Negative, eine Mischung aus Faulheit, Grübeln, Wirklichkeitsferne, selbstbezogen, verantwortungslos. Meiner Mutter gefiel nicht, daß in jeder psychologischen Studie die Schuld bei der Mutter gesucht wurde, meinem Vater gefiel nicht, daß man seine Zeit damit verschwendete, Innenschau zu betreiben, während es in der äußeren Welt genug anzupacken gab.
Und wenn ich mich unbedingt durchsetzen müsse: dann doch wenigstens eine Stelle in der Nähe, nicht im Osten.
Unsere Großeltern, die aus dem Osten stammten, waren im Räderwerk des Krieges zermahlen worden. Isidor Janich, mein Großvater, war von Beruf Hilfslehrer in der Volksschule. Er wohnte nicht wie der Hauptlehrer im Schulhaus, sondern betrieb am Rande der Ansiedlung noch eine kleine Landwirtschaft. Er
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