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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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offen.
    Odilo hielt sich mit offenen oder geschlossenen Augen nicht auf. Er war entzückt. Beugte sich vor, so weit er es vermochte, ohne ins Rutschen zu kommen.
    Quallenplage, hatte es geheißen, und er war mit ihr ans Mittelmeer gefahren.
    Pelagia noctiluca, die Leuchtqualle europäischer Meere, vermag bei Erschütterung ein Licht zu erzeugen, dessen Farbe gemeinhin als grünlich wahrgenommen wird. Gelegentlich erscheint es auch fahlrosa, ein optischer Effekt, da die Qualle purpurfarben gesprenkelt ist. Pelagia noctiluca, die Meergeborene, Nachtleuchtende. Periodische Massenvorkommen dieser Qualle haben Strandsperrungen zur Folge, die Meduse verfügt über Nesselzellen, die dem Badenden gefährlich werden können. Jetzt waren die meisten Badegäste fort. Leuchtqualle, medusa luminosa, meduza świecąca, loistomeduusa, lichtende kwal. Odilo interessierte sich für ihre lampenhafte, gläserne Ruhe.
    Für die Wissenschaft ist die pazifische Leuchtqualle Aequorea victoria von Bedeutung. Sie enthält Aequorin, das ein blaues Licht aussendet. Das blaue Licht faszinierte Odilo am meisten. Gern hätte er mit Mila eine Zeit am Pazifik verbracht. Zwar konnte er sich Exemplare von Aequorea victoria ins Labor bestellen; sie, wenn er denn wollte, durch ein feinmaschiges Sieb pressen, wie es brachial die Entdecker des Aequorins in Amerika zu tun pflegten; morgens fingen sie die Quallen lebend aus dem Meer, den Tag über verbrachten sie damit, sie zu zerkleinern, um dann festzustellen, daß die Gallertmasse noch nach dem Tode der Tiere im Waschbecken blaues Licht produzierte.
    Aber es ging ihm nicht darum, die Tiere in ihre Einzelteile zu zerlegen.
    Odilo empfand es als persönlichen Erfolg, die Quallen inihrer angestammten Umgebung leuchten zu sehen, auch wenn es weiter zu nichts führte, im Grunde genommen sogar vollkommen sinnlos war.
    Es nieselte unerbittlich, und sie verfolgten die Wege der Tropfen, die auf die gespannte Haut der See fielen, in den Wasserkörper hineinsanken. Die Quallen trieben dicht unter der Oberfläche. Durch die Berührung gereizt, reagierten sie mit diesem seltsam ortlosen Schimmern. Ließen das Meer von innen leuchten; flache Wand- und Deckenleuchten, Irrlichter unter Wasser; Lichterscheinung, die bei Erregung zunimmt.
    Sie rückten näher zusammen, der Stoff ihrer Kleider rieb aneinander, Mila wollte sich vorstellen, selbst eines dieser Tiere zu sein. Wie es sich anfühlte, von den Strömungen mitgezogen zu werden. Ein Sich-schleifen-Lassen, eine den Winden und Gezeiten ausgesetzte Lässigkeit.
    Ihr kaltes Feuer, ihre ausnehmende Eleganz, wenn sie sich in ihrem Element befanden. Ihre Berührungsverführung. Ihr kaltes Brennen. Wäßrige, kalte Glut.
    Und später, wenn es sie an den Strand spülte, die Brandung sie umdrehte und zu Haufen zusammenschob, ihre Unansehnlichkeit – das matschig Verflüssigte eines Spätwintertages. Die angetauten Schneereste am Straßenrand, schmutzige Eiskrusten, glasig, zerstampft. Eine schreckenerregende Masse, die rasend schnell dahinschwindet. Zwischenzustände. Nicht mehr ganz von dieser Welt. Jedes Kind versucht, sie anzufassen, herausgefordert von ihrer weichen Uneindeutigkeit. Mila entsann sich noch des Mädchenwunsches, mit dem Gummistiefel in sie hineinzutreten. Eine Berührung zornig zu übertreiben, bis sie in eine fremde Sphäre reicht, bis sie etwas zu erreichen scheint, was sonst unantastbar ist.
    Es war beinah windstill. Die Stille. Meine Schwester war von dieser Stille umgeben. Sie war ohne Kopf.
    Odilo beobachtete nebenbei, wie ihre Kleidung, ihr Mantel, ihr Schal nach und nach durchweicht wurden, wie erst glitzernde Tröpfchen auf den feinen Flusen schwebten, wie dann eine Verfärbung ins Dunklere stattfand, eine plötzliche Verschiebung in einen anderen Zustand.
    Er ahnte nicht das Brennen, das sich in Mila hineinfraß, das sie bis dahin zu vermeiden gewußt hatte, mit langen Handschuhen, mit dem Willen zu erotischer Erkenntnis, einer inneren Distanz.
    Sie sahen auf das unermeßliche Meer hinaus, das sie erschauern machte, wie der Regen die Quallen erschauern ließ. Aber sie, die Menschen, leuchteten nicht auf, im Gegenteil schien es ihnen, daß ihnen der Mut sank, daß sie erloschen.
    Sie erwachte in der Nacht und fand Odilo nicht neben sich. Sie fand sich noch halb in den Fetzen eines Traums, der an eine lange zurückliegende Fahrt mit einem Ausflugsschiff anknüpfte. Damals, im Urlaub an der Küste, hatten wir unsere Eltern bedrängt, mit diesem

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