Die Sonnenposition (German Edition)
hielt eine Kuh, besaß einen Acker, auch eine Wiese, auf der sein Sohn Johannes die Gänse hütete. Sidonia, Isidors Tochter, hielt sich vom Bäuerlichen, so sie konnte, fern. Sie neigte, hieß es, der höheren Bildung zu.
Isidor betreute zu dieser Zeit nicht nur seine Schule, sondern unterrichtete im täglichen Wechsel auch im Nachbarort, wo längst kein Lehrer mehr war. Vielleicht wollte er die Schüler nicht im Stich lassen. Vielleicht konnte er es auch einfach nicht glauben. Er bereitete sich zu spät auf die Flucht vor. Soldaten erschlugen Isidor Janich im eigenen Haus. Seine Frau Katharina und Tochter Sidonia nahmen sie mit. Johannes überließ man sich selbst. Er zerrte eine Decke unter die Küchenbank und verbrachte dort die Nacht, das Gesicht zur Unterseite der Sitzfläche gerichtet. Katharina wurde am nächsten Tag im Graben aufgefunden. Sidonia ließ man am Leben.
Die Kinder begruben ihre Eltern, so gut sie es konnten, im Garten. Sie zogen ins Schulgebäude, hausten mit den anderen Überlebenden aus der Nachbarschaft im Klassenzimmer. Nach zwei Wochen kehrten sie in ihr Elternhaus zurück. Die Gänse waren in ihrem Schuppen verbrannt, die Kuh verschleppt. Zwei alte Frauen hatten sich in das Haus geflüchtet und im Kartoffelkeller verbarrikadiert. Mit diesen beiden Frauen lebten sie über ein Jahr. Sidonia las nichts mehr, sie pflückte Huflattich und Sauerampfer, kochte Brennesseln. Johannes ging betteln. Schließlich wurden die Geschwister ausgewiesen, zu Verwandten ins zerbombte Köln geschickt.
Theorie der Zeit
Was vergeht? Die Zeit? Wer vergeht? Die Zeit existiert nicht. Wir stellen sie her, indem wir versuchen, uns zu erinnern. Indem wir einen Duft aufnehmen, einen Klang, eine vage Empfindung, und daraus eine Vergangenheit konstruieren, die stattgefunden haben könnte, stattgefunden hat, und jetzt nur mehr eine Atmosphäre ist, die uns durchdringt.
Wir leben in der Illusion von Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Zwar haben wir Anhaltspunkte, daß es sich anders verhält, daß die Planeten um die Sonne kreisen, aber im Alltagbleiben wir dabei: Es wird Tag, wir erwachen, die Sonne geht auf.
Nun kreist die Sonne auf ihrer scheinbaren Bahn und bestimmt uns die Stunden. Wir beobachten ihre großen Bögen, Ornamentik des Raums, die den Nebel vertreibt.
Von nun an gilt: Nichts wiederholt sich. Der lineare, der zielfixierte, nicht umkehrbare Zynismus der Zeit macht Dinge mit uns, die wir nicht wollten. Zeugt Vorher und Nachher. Schickt uns das Licht längst erloschener Sterne. Richtet die Sehnsucht auf die Zukunft aus. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, aber das Gegenteil ist der Fall.
Wir erfinden die Zeit, und dann läßt sie uns sterben.
Argumente der gräflichen Schlafgemächer: Insgesamt hat sich der Raum seit der sogenannten Wende wieder ausgedehnt. Die Grenzen, auch die psychischen, öffnen sich, der Zeit, auch der seelischen, wird eine größere Tiefe zugestanden, die Erinnerung tritt nicht mehr auf der Stelle. Man darf von einem Traum in den anderen gleiten, Erinnerung und Erfindung ohne schlechtes Gewissen vermischen; das Gegenwärtige nimmt zu, die Leere nimmt ab.
Unbegründete und auch scheinbar begründete Ängste werden durch das Freundliche, Helle, Nette der Inneneinrichtung, also durch lichte Möblierung und pastellene Raumgestaltung, kompensiert, beschwichtigt oder im Keim erstickt. Wir sind noch nicht soweit.
Statt dessen ist jeder Winkel im Schloß ausgemalt, mit düsteren Bildern verhängt, mit majestätischen Tapeten zugekleistert. Überall Götter und Putten, überall Schwere und Stuck. Nur hier und da, wo der Putz fehlt, sind Teile der Geschichte herausgebrochen, ist die Erinnerung verwischt vor Wut.
Nebel im Schloß. Die Küche füllt sich schon morgens mit Schwaden. Das Deckengemälde, das eine rosige Wolkenschicht darstellt, schwebt über dem Dampf und ist angegriffen von ständiger Feuchtigkeit. Dicke Engelchen blicken durch Schleier herab, darunter erwärmt sich der Konvektomat, in den die Küchenhilfen Bleche mit tiefgefrorenen Kroketten und tiefgefrorenem Cordon bleu schieben, darunter schneiden sie Gemüse und verrücken die Töpfe, darunter das Wischen und Spülen, das Hantieren der Putzfrauen mit den Schrubbern, ihre gebeugten Rücken, ihre unentwegten Reinigungsversuche gegen den nie sich vermindernden Dunst.
Argumente der Korridore: Ich träume, daß ich mit dem Patientenfernseher vor der Brust durch die Gänge laufe. Aus apotropäischen Gründen habe ich mir
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