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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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vergangener Jahre durchdrungen, vom Jetzigen, Unveränderten träge umspült.
    Gewohnheiten, die immer gleich sind. Der alte Schloßherr durch die Räume schlurfend, mit immer reduzierteren Bewegungen, dann hängt er unter den Ahnenporträts, nur noch leicht schaukelnd, wenn jemand das Bild anstößt. Auf langen Tafeln erscheinen Speisen und verschwinden, sie tauchen in Wellen auf, treiben einen Moment auf der Oberfläche und versinken in der Tiefe. Aus dem Rokokokochbuch: Graue Erbsen, Leipziger Lerchen, Hirschterrine in Cognac. Karamelisierter Rehrücken in Bordeauxwein-Gewürzsauce. Dreierlei Essen von einem Fisch. Wildschweinterrine mit Steinpilzen. Ein Schaugericht: Schwanenpastete im schneeweißen Federkleid. Weitere Schaugerichte: Embleme aus gefärbtem Zuckerwerk. Man bewundert den kunstvollen Bau, alles aus Zucker. Man ißt nicht von diesem Zuckerwerk, denn die Farbenpracht verdankt sich giftigen Pigmenten. Das Schweinfurter Grün enthält Arsen, das Neapelgelb Blei, mit dem Kobaltblau äße man Kobalt, im zinnoberroten Zucker das Quecksilber mit. Man verzehrt statt dessen Geleefrüchte, kandierte Früchte, nimmt von der Pfirsichpyramide. Trinkt Schokolade mit Ambra, Zimt und Jasmin.
    Seidenraupen fressen draußen, in der neuen Plantage, die Blätter der Maulbeerbäume. Die Bevölkerung pachtet Parzellen für Kohl, für Erdäpfel, Mohn, gelbe Rüben und Hanf.
    Tapetenmotten fressen den Leim, der die Seidentapeten an den Wänden hält. Sie fressen Löcher in die Seide, fressen den Ziervögeln mit den geschweiften Schwanzfedern Löcher ins Gefieder.
    Bilder werden ausgetauscht, die Spiegel erblinden, Muscheln fallen ab, die Möbel verlieren ihren Glanz. 1945 sind Häuser, Ställe und Betriebe zerstört, die Felder vermint. Nach der Enteignung lagert die LPG die Erträge im Schloß. Der Kronleuchter sieht auf einen Getreidespeicher hinab, dann auf eine Düngemittellagerstätte im Schmuck des märkischen Spätbarocks. Was gegessen wird im Laufe der neuen Zeit, braucht Platz.
    Die Schlösser der neuen Bundesländer dürfen als Gedächtnispaläste nach dem Vorbild antiker Memorierkunst gelten. Die Technik des Erinnerns einer Rede beruht darauf, daß man seine ausgearbeiteten Argumente in verschiedenen Zimmern eines imaginären Anwesens abgelegt hat, hinter der Bodenvase im Eingangsbereich, auf dem Vertiko, unter der Supraporte. Diese Argumente können beim Durchwandern des Palastes wieder eingesammelt werden. Man durchschreitet die Räumlichkeiten in der naheliegenden Abfolge und greift schön der Reihe nach auf, was vorzutragen ist. Entsprechend positioniert man seine Einleitung an der Pforte, die Darlegung der Thematik im Treppenhaus, im Empfangszimmer: Argument eins.
    Das Argument für die mystische Jagd entdecken wir im Jagdzimmer wieder. Jemand hat es dort vergessen, es gehört nicht uns, zumindest ist es nicht von uns erdacht. Ein elektrifizierter Deckenleuchter aus Geweihteilen illuminiert die herrschaftlichen Parkbäume, die innen noch einmal an die Wand gemalt sind, als fände die Jagd direkt im Schloß statt, von einem Saal in den nächsten. Ein Keiler, sehr borstig dargestellt, flüchtet zwischen die Stämme, regelmäßige Stämme, die die Verhaktheit des Leuchters durch Ruhe und Ordnung ausgleichen.
    Draußen kauen Pferde auf ihrem Gebiß. Sie werfen den Kopf auf, das Zaumzeug klirrt. Rufe der Stallburschen, Hufgetrappel, Geschichte Preußens als Klangkunst und Zorn. Draußen das mit dem Kronleuchter konkurrierende Licht.
    Es bleiben Hirschteppiche, auf denen drei Hirsche an die Möglichkeit königlicher Haltung erinnern, und wer das Jagdzimmer betritt, richtet sich auf, hebt den Kopf, strafft die Brust.
    Das Gegenargument drängt sich uns im Kaminzimmer auf.Räudige Tapeten in Dauerbrunft. Verschlungene Ornamente ahmen ineinander verkeilte Geweihe nach und verleihen dem ganzen Raum etwas Ausgestopftes; halb als säße man in einem ausgestopften Tier, halb als sei man selber ausgestopft im Verein mit den Sesseln und der Schrankwand, den ausgestopften Topfpflanzen, einem Tisch, dessen Platte sich mittels einer Kurbel in die Höhe schrauben läßt. Das Personal hat hier Aufenthalt genommen, stellt nachmittags Kaffeetassen auf und dreht die Kurbel, läßt die Platte steigen.
    Spiegelsaal: Argumente für Welterschaffungsprojekte. Uniformteile, die in den Spiegeln auftauchen, feierlich und goldbesetzt. Orden und Tressen auf Menschenhälften, auf abgeschnittenen Körpern bewegen sich durch einen silbrigen

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