Die Sonnenposition (German Edition)
Schiff fahren zu dürfen. Das Schiff besitze einen Glasboden, hieß es, und die Betreibergesellschaft warb mit einer Fotomontage, Geheimnisse des Meeresgrundes , auf der eine wundersame Unterwasserwelt zu sehen war, üppige Seeanemonen und Korallen, buntgestreifte Fische, Seesterne und langhaarige Nixen, wobei wir letztere als Reklame abtaten, den Rest aber durchaus erwarteten. Das Schiff legte ab, wir stürmten ins Untergeschoß, das allerdings gewöhnlich wirkte, keineswegs gläsern, und eine Bar enthielt. Schließlich entdeckten wir, umringt von einem Geländer, eine Scheibe im Boden, ein kleines Rechteck bloß, vielleicht von der Länge eines Hütehundes, und durch dieses Rechteck sahen wir den Meeresboden. Sand. Flacher, in leichte Wellen geschobener Sand, Sandund einzelne Steine. Ein paar weiße Muschelschalen in dieser Sandfläche, viel weniger als am Strand, grauer Sand, über dem ein paar Luftblasen trudelten, dann ein zerfetzter, halb eingegrabener Turnschuh, dann wieder bloß Sand. Der Sand entfernte sich, je weiter wir hinausfuhren, er sank immer weiter nach unten, schließlich sahen wir nur noch das Wasser, sonst nichts.
19 Gedächtnispaläste
Die Kronenqualle schwebt unter der Decke des Bibliothekssaales, sie erhellt das Dunkel mit dem unwirklichen Licht eines Tiefseetieres, das dazu gemacht ist, dem Druck mehrerer Tonnen Wasser standzuhalten. Diesen Tonnen seine gallertige Weichheit, seine Angreifbarkeit, seine Beeindruckbarkeit entgegenzusetzen. Ein Tier, das sich wenig bewegt, das der Kälte und Finsternis mit seiner passiven Aggressivität trotzt, dessen Lebensvorgänge in Zeitlupe verlaufen, das selbst den Verlauf der Zeit zu verlangsamen scheint. Diese Lähmung aller Lebensvorgänge hat längst auch uns erfaßt, die wir uns noch ein paar Meter tiefer aufhalten, mit aufgeschlagenen Büchern um ranzige Sessel schlurfen, in dieser Atmosphäre eines immensen Druckes, der in unserem Falle ein psychischer ist. Ich sage uns, als wäre ich unterschiedslos mitbetroffen und geneigt, wie alle anderen ebenso die Last der Historie auf mich zu nehmen und mich mit dieser Last besonders vorsichtig zu bewegen: ohne Schlamm aufzuwühlen, ohne Widerstand. Man befindet sich in einer Art Schockstarre, und die Kunst besteht darin, sich zu bewegen, als bewege man sich nicht. Wir befinden uns in einem Raum der Handlungslosigkeit. Alle Handlungen haben stattgefunden, viele hätten besser nicht stattgefunden, in diesem Raum bleibt nichts mehr zu tun. Nichts, als sich anzupassen. Manchmal kommt es mir so vor, als bestünde unsere Aufgabe darin, den sich rasend beschleunigenden Veränderungen durch unsere apathische Langsamkeit etwas entgegenzusetzen: Hier kann uns nur noch wenig geschehen. Der Druck jener Außenwelt, jener Geschichte wäre zugleich das, was uns birgt.
Der Buchbestand in der Bibliothek ist vernachlässigenswert. Dennoch halten sich die Patienten tagsüber gern hier auf. Die meisten Werke stammen noch aus DDR-Zeiten. Wie der Stahl gehärtet wurde, Urania-Kompendium Technik , solche Sachen. Die Patienten verbeißen sich in diese Lektüren mit einer Art von Erkenntniswut, als könnten sie darin über ihr Schicksal Aufklärung erhalten. Die Saaldecke ist außerordentlich düster. Ausgestaltet mit Muschelornamenten, wie man sie in Seebädern den Touristen auf Spanschachteln verkauft, gibt diese Decke das schattige, kühle Gefühl einer Grotte. Über Jahrhunderte haben hier Kerzen gebrannt, Kaminfeuer gelodert, der Ruß von Jahrhunderten ist an die Decke gestiegen und hat sich dort festgesetzt. Die Muschelschalen mit ihren feinen Rillen, die Kalkgehäuse der Wasserschnecken sind schwer zu reinigen, die Decke blieb schwarz.
Ein Ofenschirm ist noch vorhanden. Im Sommer steht er vor der Kaminöffnung und schirmt den Heizkörper, den man am Platz der Feuerstelle installiert hat, vor empfindlichen Blicken ab. Im Winter, wenn die Heizung läuft, wird er abgerückt, und die Patienten benutzen ihn als spanische Wand. Sie bauen ihn zwischen zwei Sesseln auf, um sich eine Lesekabine oder eine Kreuzworträtselkabine zu schaffen, ein Stück Privatheit im Aufenthaltsraum.
Ab und zu fällt eine Muschel auf ein Buch. Ein Schneckengehäuse löst sich aus dem Gips und sinkt zu Boden. Am Grund geht die Strömung kaum merklich. Oben ist sie stärker, sie wiegt den Leuchter im Sog der vergehenden Zeit, in der Strömung der Baltischen See. Frisches Haff, Skagerrak, Winde Kareliens – der Leuchter bleibt von der Hitze und Kälte
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