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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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umhäkeln. Die Bügel im Kleiderschrank waren aus Holz, auf einzelnen stand noch der Name einer Schneiderei aus der Vorkriegszeit. Sie häkelte Ringel, sie häkelte eckige Blüten. Draußen stand die Landschaft in ihrer vollen Pracht.
    Ich rückte mir einen Stuhl heran, beobachtete, wie der Faden zwischen ihren Fingern weiterlief. Meine Schwester lauschte auf die Satzfetzen vom Nachbarbalkon.
    Und nun, sagte sie dann, und während sie mit dem gepolsterten Bügel auf mein Knie klopfte, nahm sie den strengen,leicht mürrischen Ausdruck Tante Sidonias an, und nun, fühlen wir uns zu Hause?
    Ich schilderte ihr die Aussicht vom höchsten Punkt des Riesengebirges, ich stellte kämpferisch die These auf, daß sie den Höhepunkt der Reise verpaßt hatte.
    Meine Schwester interessierte sich nicht für die Aussicht. Patzig rührte sie ihren Kaffeesatz um.
    Meine schreckliche Schwester war schon wieder mit sich beschäftigt. Sie war mit etwas ganz anderem beschäftigt, denke ich jetzt, ich wußte damals nicht, womit.

22 Wasserspeier
    Ich bilde mir ein, daß meine Schwester den Eindruck zurückbehielt, etwas versäumt zu haben, und daß sich dieses Gefühl mit der Zeit verstärkte.
    Ein Gefühl von verpaßten Anschlüssen, etwas Drückendes, die dumpfe Ahnung, nicht zu genügen, der Drang, etwas erneuern, wiederherstellen, wiederholen zu müssen, nur was? Was trieb meine Schwester um, was hätte sie veranlassen können, noch einmal in diese Gegend zu fahren, diesmal mit ihm?
    Duszniki-Zdrój. Es hatte getaut, taute, würde weitertauen. Der ganze Ort lag in Rost und Schwefel. Schnee suppte auf den Wegen, die Eiszapfen an den Dachrinnen tropften, und während vorher der Schnee alles ausgefüllt hatte, breitete sich jetzt eine Leere aus, die man nur als abgewandt bezeichnen konnte, eine Leere, die allem den Rücken kehrte, die keine Erwartungen schürte, eine Leere ohne Versprechen, ohne Potential. Ein kalter Wind blies aus Skandinavien, er erweckte keine Ahnungen, es war ein Wind, der das, was er berührte, abstumpfte.
    Sie gingen langsam und angespannt über den aufgeweichten Pfad im Kurpark, den Körper gegen den Wind versteift. Mila hielt den Mantelaufschlag über der Brust zusammen. Sie hatte den Pelzkragen aufgestellt und hob unnatürlich die Füße bei jedem Schritt, als könne sie so ihre Wildlederschuhe vor dem Schmutz schützen. Odilo ging achtlos, fast verächtlich gegen seine Umgebung. Er trug helle, allzu helle Hosen, deren Rückseite bis zu den Kniekehlen von Schlammspritzern gesprenkelt war. Er bemerkte es nicht, auch Mila sah es nicht, sie ging beiihm eingehakt, in einer erzwungenen Langsamkeit, als wolle sie mit diesem Schlendertempo die Illusion eines Sommertags erzeugen. Über dem Ort hing der Geruch von qualmender Holzkohle und einem Linsengericht, als werde in allen Küchen ausnahmslos dieses eine starkschmeckende Gericht zubereitet. Etwas schlecht Gelüftetes, über das Odilo die Nase rümpfte, zeichnete diesen Ort aus, etwas Feuchtes und Stickiges, obgleich man sich im Freien befand, es war ein Ort, an dem sich die Gerüche über Jahre und Jahrzehnte hielten, an dem die frische Luft seit Jahrhunderten nicht ausgetauscht schien.
    Diese Luft hatte 1826 schon Frédéric Chopin geatmet, als er noch Fryderyk hieß, sich hier mit Mutter und Schwester zur Kur aufhielt und sein erstes Konzert außerhalb der Grenzen von Polen gab, ein Wohltätigkeitskonzert, Mendelssohn hatte sie geatmet, und jetzt atmete Mila sie, Komponistenatem vermischt mit den Dünsten von Linsensuppe und rostigem Rohr.
    In der Dämmerung betraten sie den Kurpavillon. Sie waren die einzigen Gäste. Der Pavillon lag in einem trüben gelben Licht wie von Heizkissen und Rheumadecken, das sie schlafwandlerisch durchschritten. In der Trinkhalle saß eine Frau mit Krankenschwesterhaube hinter einer Schulbank und verkaufte daumengroße Plastikbecher. Mila reichte ihr eine Fünfzigermünze und erhielt zwei Becherchen. Sie standen damit eine Weile unschlüssig vor dem Brunnen. Das arsenhaltige Wasser floß stoßweise aus einem dünnen Röhrchen, es wehte sie etwas Fauliges von diesem Brunnen an. Sie hielten ihre Becher in den Strahl.
    Odilo wäre lieber nach Karlsbad gefahren, nach Marienbad, Goethes wegen. Mila wollte hierher, Chopins wegen. Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte der Ort zu den bedeutendsten Herzheilbädern Europas. Dann war er aus der Mode gekommen. Und jetzt, im Winter, blieben die Kurgäste ohnehin aus.
    Odilo fühlte sich unwohl in

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