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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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naß.
    Es taute draußen. Taute demonstrativ. Der kalte Krieg war vorbei. Es gab einen Reiseboom in die Landstriche in Europas Osten, in denen man die verlorenen Zeiten wiederzufinden hoffte. Dieser Kurort lag ganz in der Nähe des Ortes, in dem ihr Vater geboren war. Hier war Tante Sidonia aufgewachsen, hier hatte das Großelternpaar gelebt, das aus der Familienbilanz hatte herausgerechnet werden müssen.
    Mila hatte sich vorgestellt, in dieser Gegend etwas zu finden, eine Stimmung, einen Anblick, Gründe vielleicht für ihr ständiges Unbehagen, das der neugewonnene Frieden nur neuerlich in sie einfließen ließ. Es durchsickerte Generation um Generation: ein unscharfes Schuldgefühl, eine nagende Unruhe, die sich auf nichts zurückführen ließ. Jetzt war sie an der Reihe, Erinnerungen zu bergen und zu tilgen, mit den Versehrungen zurechtzukommen. Aber ihr war ja nichts geschehen. Niemand hatte ihr jemals ein Haar gekrümmt, und es war unredlich, sich beeinträchtigt zu fühlen.
    Sie wanderte durch zerfließende Wege zur Papiermühle, zur Sommerrodelbahn. Ging am Nachmittag durch Rinnsale und Sturzbäche zu ihrer Unterkunft zurück, stopfte Zeitungspapier in die Schuhe, hängte die Strümpfe über die Heizung, stellte sich unter die glühendheiße Dusche, bis sie krebsrot angelaufen war.
    Nachts schien es ihr, als fahre sie fort, im Dunkeln zu tappen, im Trüben zu fischen, sie sah Wasserspeier vor sich, die das Wetter von damals erbrachen, sie sah ein unruhiges Glitzern, aber es gelang ihr nicht, dieses Geglitzer zu einem Bild zusammenzufügen.
    Sie ließ die Hand über den Rand des Bettgestells hängen, hielt in der Faust einen von Odilos Schnürsenkeln, hielt daran wie ein Kleinkind auch im Schlaf noch fest. Er zog sein anderes Paar Schuhe an und ging leise hinaus.
    Er ertrug es nicht, neben ihr zu liegen, wenn sie schlief. Sie schien sich ihm dann entzogen zu haben, sie war weit entfernt, seinem Einfluß nicht zugänglich.
    In der ersten Nacht hatte er sie mehrmals geweckt. Er sagte nicht, daß es ihn verrückt machte, wenn sie ihn allein ließ, schlafend. Er legte sich dicht zu ihr, er hatte sie wachgeküßt, und er küßte sie kurz darauf wieder wach.
    Er schlief nicht mehr, während meine Schwester immer mehr schlief, als müsse sie ihre Energie aus höheren Sphären ziehen. Tagsüber ging sie umher wie in Trance. Er weckte sie nicht mehr so oft, er durchquerte nachts den Park, marschierte zum dunklen Brunnenhaus, hielt im kalten Himmel nach Sternschnuppen Ausschau.
    Als er zurückkehrte, betrachtete er lange, wie sie sich in die Decken eingerollt hatte, streichelte ihre Strickjacke, die über der Stuhllehne hing, ließ die Perlknöpfe durch die Finger gleiten.
    Im Halbschlaf beobachtete sie, wie er sich leise auszog, sich neben sie legte. Sie beobachtete ihn mit geschlossenen Augen, lauschte auf jedes kleinste Geräusch, beobachtete ihn mit dem ganzen Körper, horchte mit der Haut. Sie wartete darauf, daß er sie mit schüchternen Berührungen zu wecken suchte.
    Danach versuchte er, als erster einzuschlafen. Sie mußte ihm versprechen, wach zu bleiben; solange wach zu bleiben, bis sie hörte, daß sein Atem gleichmäßiger ging.
    Er schlief ein, und sie drehte sich zur Seite.
    Kurz darauf, es schien ihr kurz, sie war gerade erst weggedämmert, küßte er sie wieder wach. Seine Augen weit aufgerissen und starr, er sah sie und sah sie nicht. Seine Bewegungen routiniert, und doch auf eine erschreckende Art ungelenk. Er griff nach ihr und griff daneben, tastete nicht im Dunkeln, tastete nicht wie blind, sondern griff ganz selbstverständlich nach ihr, griff neben sie und knetete die Bettdecke. Erst wollte sie seine Hand nehmen und an die richtige Stelle führen, aber dann kam sie ihm entgegen, rückte dorthin, wo er seltsam mechanisch weiterknetete, als sei sein Körper nicht imstande, einen einmal begonnenen Bewegungsablauf zu stoppen.
    Erst als er sich wegdrehte, begriff sie, daß er schlief. Noch immer schlief, daß er die ganze Zeit geschlafen hatte, aufgerissenen Auges.
    Sie sprach ihn am Morgen nicht darauf an, nicht beim Frühstück in der Gaststube mit Schlesischen Würsten und hohen Blechkuchenwürfeln, nicht während sie den Mantel anzog, den Hut aufsetzte, sich das Haar an den Schläfen zurechtstrich zum Gang durch den Ort, zum Jungbrunnen, wie sie es scherzhaft nannten; sie bat ihn nicht, mitzukommen.

IV Splendor

23 Die Folgen – Fallgeschichten 2
Ruhekissen
    Niemand hat begriffen, wie es ihm

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