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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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als gesehen, die geifernden Hundsdrachen mit angelegten Flügeln, die spiralhornigen Ziegenböcke mit Nixenschwänzen, und er hatte sich sofort selbst als Mischwesen gefühlt, aus fragwürdigen Hälften oder Vierteln zusammengesetzt. Der feine Regen fiel ihm ins Gesicht, die Chimären hockten hoch oben am Dom, das Maul über der Stadt geöffnet, unbewegt, stumm. Der Regen vom Domdach lief nicht mehr durch ihre Kehle, er rann im Verborgenen herab, in verdeckten Rinnen, daß er den Besuchern nicht vor die Füße plätscherte, nicht in dicken Strahlen aus großer Höhe auf dem Platz zerspritzte, dem Besucher nicht von unten in die Kleider fuhr. Nicht mehr sollte das Dämonische abgehalten werden vom Gotteshaus, sondern vom unbedarften Passanten, der an das Dämonische nicht mehr glaubte, nur noch an Lästiges, Unbequemes.
    Von den Wasserspeiern wurde einstmals erwartet, daß sie die Bewegung des Regens bündelten. Mit ihrer Häßlichkeit leiteten sie Blitze ab, mit ihrer Monstrosität dirigierten sie den Donner, schickten die Wolkenungetüme auf andere Wege abseits der Stadt – und war nicht der Kölner Dom sogar aus Bombenhageln unversehrt hervorgegangen, ihretwegen?
    Heutzutage ging nur noch Wind über sie hinweg, der Verlauf des Wetters wurde von ihnen nicht länger reguliert, heutzutage gab es die Vorhersagen, die Strömungsbilder im Fernsehen, die allerdings nur vorgriffen, nicht eingriffen. Odilo glaubte dennoch daran, mit der Vorhersage über das Wetter verfügen zu können, und plötzlich hatte er sich auf die Tage mit Mila gefreut, zu hoffen gewagt, daß ihn die Körperkonfusion dann für eine Weile verließe, weil Mila ihn in eine Art Natürlichkeit hineinzuziehen, sein grundsätzliches Unwohlsein zu lindern vermochte.
    Aber jetzt umfloß es seine Schuhe in Rinnsalen, als habe er selbst das ganze Wasser hohlmäulig ausgespuckt.
    Am nächsten Tag ging er nicht aus, schützte Migräne vor. Mila schloß sorgsam die Perlknöpfe ihrer wollweißen Strickweste, zog den Mantel an, nahm die cremefarbene Handtasche über den Arm.
    Mila ging durch die schneeverwischten Stellen im Park zum Brunnenhaus. Ging durch die weißgefleckte Landkarte, Arbeit an der Quelle zu leisten, ein vages Schuldgefühl dadurch abzubauen. Sie flüsterte die polnische Bezeichnung vor sich hin – pijalnia –, schreckte ein Taubenpaar auf, das auf nacktem Ast döste, dann mit synchronen Wendungen der Köpfe sein Gefieder putzte. Sie fühlte sich immer beschädigter, je näher sie kam. Trinkkur. Erinnerungskur.
    Sie verspürte eine seltsame Begierde diesem Ort gegenüber, sie verspürte ein Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen, die Last seiner Geschichte zu schultern. Sie ging hoheitlich in ihren Altfrauenkleidern, als verkörperte sie eine Vergangenheit, die sich außer ihr niemand zurückwünschte.
    Müde Attraktionen der brachliegenden Tourismusindustrie. Eine dumpf riechende Kirche, bestehend aus Wachsflecken, schmelzenden Kerzen, verformten Votivgaben aus Wachs. Eingefaßte und überdachte Rinnsale. Wandelhallen, bevölkert von Kindergruppen aus einer mißlungenen, schneelosen Winterfreizeit.
    Auf den Straßen alte Leute, die bereits begannen, ihre Rückseite zu vernachlässigen. Ein Mann, dem das Taschentuch aus der zerbeulten Hosentasche hing. Eine Frau, vorne gut gekämmt, die Haare am Hinterkopf nicht frisiert. Mila ging hinter ihr her, sah direkt auf die kahle Stelle in den schütteren Dauerwellen, die noch flachgelegen waren von der Nacht.
    Sie hatte sich erhofft, die Musik Chopins schwebe lautlos in den Straßen, wenigstens eine Ahnung, ein Hauch. Aber es gelang ihr nicht, sich auf Chopin zu konzentrieren, nicht einmal, sich sein Regentropfen-Prélude in Erinnerung zu rufen.
    Statt dessen Löwenchöre: Hic sunt leones. Die Schneehaufen am Wegrand waren nur unwesentlich geschrumpft, überall rann und rieselte es, Gesang der Löwen, Gähnen und Brüllen der Löwen, Knurren und Schnurren, ihre unaufhörlichen Katzengeräusche, ihre großangelegte Katzensprache, die sich im Tropfen und Rauschen fortsetzte; eine Warnung, nicht zu nahe zu treten. Nicht versehentlich in diese Auflösung zu geraten, die sich überall ausbreitete, sich heimlich in den Dingen fortsetzte, in den Schaukeln und Turnstangen auf dem Spielplatz, die ihre Konsistenz nur vortäuschten. In der Rutsche aus verblichenen Kunststoffteilen. Dem alten Kletterglobus aus Metallstangen in den Primärfarben. Dem vergessenen Gurkeneimer im Sand. Niemand spielte hier. Alles war

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