Die souveraene Leserin
Buch ausleihen? Auch ohne Mitgliedskarte?«
»Kein Problem«, sagte Mr. Hutchings.
»Man ist ja schon im Rentenalter«, sagte die Queen, als mache das einen Unterschied.
»Ma’am können bis zu sechs Bücher ausleihen.«
»Sechs? Um Himmels willen.«
Inzwischen hatte der rothaarige junge Mann seine Wahl getroffen und das Buch dem Bibliothekar zum Abstempeln hingelegt. Die Queen versuchte weiter Zeit zu gewinnen und nahm es in die Hand.
»Was haben Sie sich denn ausgesucht, Mr. Seakins?« Sie hatte erwartet, nun, im Grunde wusste sie nicht genau, was sie erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht: »Oh. Cecil Beaton. Kannten Sie ihn?«
»Nein, Ma’am.«
»Nein, natürlich nicht. Dafür sind Sie zu jung. Er trieb sich ja dauernd hier herum und photographierte unablässig. Ein bisschen aufbrausend. Dahin stellen, hierhin stellen. Klick, klick. Jetzt gibt es also ein Buch über ihn?«
»Mehrere, Ma’am.«
»Tatsächlich? Ich nehme an, früher oder später wird über jeden Menschen geschrieben.«
Sie blätterte das Buch durch. »Wahrscheinlich ist irgendwo ein Bild von mir darin. Ach ja. Das. Er war natürlich nicht nur Photograph, sondern auch Bühnenbildner. Oklahoma! und solche Sachen.«
»Ich glaube, es war My Fair Lady, Ma’am.«
»Ach wirklich?«, sagte die Queen, die Widerspruch nicht gewohnt war. »Wo, sagten Sie noch, arbeiten Sie?« Sie legte das Buch zurück in die großen roten Hände des Jungen.
»In der Küche, Ma’am.«
Sie hatte ihr Problem immer noch nicht gelöst, denn sie wusste, wenn sie ohne Buch ginge, bekäme Mr. Hutchings den Eindruck, seiner Bibliothek mangele es an irgendetwas. Dann entdeckte sie auf einem Regal mit recht zerlesenen Bänden einen bekannten Namen. »Ivy Compton-Burnett! Das kann ich doch lesen.« Sie zog das Buch heraus und reichte es Mr. Hutchings zum Abstempeln.
»Was für ein unverhofftes Vergnügen!« Sie drückte das Buch wenig überzeugend an die Brust, bevor sie es aufschlug. »Ach. Zum letzten Mal ist es 1989 ausgeliehen worden.«
»Sie ist keine besonders populäre Schriftstellerin, Ma’am.«
»Warum denn nicht? Ich habe sie schließlich geadelt.«
Mr. Hutchings ließ unerwähnt, dass der Weg in die Herzen des Publikums nicht unbedingt über solche Titel führt.
Die Queen besah sich das Porträtphoto auf der hinteren Umschlagklappe. »Ja. An diese Frisur erinnere ich mich deutlich, so eine Welle wie aus Pastetenteig, die um den ganzen Kopf ging.« Sie lächelte, und Mr. Hutchings wusste, der Besuch war zu Ende. »Auf Wiedersehen.«
Er neigte den Kopf, wie man es ihm in der Bibliothek aufgetragen hatte, sollte dieser Fall eintreten, und die Queen verschwand in Richtung Garten, gefolgt von den nun wieder wild kläffenden Hunden, während Norman mit seinem Cecil-Beaton-Band einem Koch auswich, der bei den Abfalleimern Zigarettenpause machte, und sich wieder in die Küche begab.
Als er seinen Bücherwagen geschlossen hatte und wegfuhr, dachte sich Mr. Hutchings, dass ein Roman von Ivy Compton-Burnett keine leichte Lektüre war. Er selbst war nie sehr weit darin gekommen, und er vermutete ganz zutreffend, beim Ausleihen des Buches habe es sich vor allem um eine höfliche Geste gehandelt. Doch er wusste diese Geste zu schätzen, und das nicht nur als Zeichen guter Manieren. Der Stadtrat drohte ständig, der Bibliothek die Mittel zu kürzen, und eine so namhafte und distinguierte Entleiherin (oder Benutzerin, wie der Stadtrat sie nannte) konnte da sicher nicht schaden.
»Wir haben einen Bücherbus«, sagte die Queen abends zu ihrem Gatten. »Kommt jeden Mittwoch.«
»Feine Sache. Es gibt noch Wunder.«
»Erinnerst du dich an Oklahoma ?«
»Ja. Haben wir in unserer Verlobungszeit angeschaut.« Bemerkenswert, wenn man es bedachte, was für ein schneidiger blonder Junge er damals gewesen war.
»War das Cecil Beaton?«, fragte die Queen.
»Keine Ahnung. Hab den Burschen nie leiden können. Grüne Schuhe.«
»Duftete herrlich.«
»Was hast du da?«
»Ein Buch. Das ich ausgeliehen habe.«
»Tot, nehme ich an.«
»Wer?«
»Dieser Beaton.«
»Aber ja. Alle sind tot.«
»War aber ein tolles Stück.«
Und mit einer mürrischen Version von Oh, what a beautiful morning auf den Lippen ging er zu Bett, während die Queen ihr Buch aufschlug.
In der folgenden Woche hatte sie das Buch eigentlich einer ihrer Hofdamen zum Zurückbringen geben wollen, aber als sie von ihrem Privatsekretär aufgehalten wurde, der ihren Terminplan weitaus detaillierter
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