Die souveraene Leserin
ahnen ließ, derentwegen er so empfindlich war und an die er nur ungern erinnert wurde (wie Norman ihr berichtet hatte).
Ein weiterer wunder Punkt war sein Name. Der Privatsekretär empfand ihn als Belastung: Kevin hätte er sich mit Sicherheit nicht selbst ausgesucht, und weil er den Namen so wenig leiden konnte, gab es ihm jedes Mal einen Stich, wenn die Queen ihn benutzte, auch wenn sie kaum wissen konnte, wie erniedrigend er ihn empfand.
Tatsächlich jedoch wusste sie es ganz genau (wieder dank Norman), doch für sie war eines jeden Name ohne Bedeutung, wie übrigens auch alles andere, Kleidung, Sprache, Klassenzugehörigkeit. Sie war eine echte Demokratin, vielleicht die einzige im ganzen Land.
Sir Kevin allerdings schien es, dass sie ihn unnötig oft beim Namen nannte, und bisweilen war er überzeugt davon, dass sie es mit neuseeländischem Beiklang tat, mit einem Hauch jenes Landes der Schafe und Sonntagnachmittage, das sie als Oberhaupt des Commonwealth mehrmals besucht hatte und von dem sie angeblich so begeistert war.
»Es ist ganz wichtig«, sagte Sir Kevin, »dass Eure Majestät sich auf die Kernkompetenzen konzentrieren.«
»Wenn Sie von ›Kernkompetenzen‹ reden, Sir Kevin, so meinen Sie sicherlich, man solle den Ball nicht aus den Augen verlieren. Nun, ich habe seit mehr als fünfzig Jahren den Ball im Blick, also sollte einem doch mittlerweile ein gelegentlicher Blick zu den Außenlinien gestattet sein, finde ich.« Sie hatte das Gefühl, die Metapher sei ihr da womöglich ein wenig schief geraten, doch Sir Kevin fiel das nicht weiter auf.
»Ich verstehe ja«, sagte er, »dass Eure Majestät sich die Zeit vertreiben wollen.«
»Die Zeit vertreiben?«, fragte die Queen. »Bücher sind kein Zeitvertreib. Sie handeln von anderen Leben. Anderen Welten. Man will sich ganz und gar nicht die Zeit vertreiben, Sir Kevin, man wünscht sich im Gegenteil mehr davon. Wenn man sich die Zeit vertreiben wollte, könnte man nach Neuseeland reisen.«
Nach zwei Namensnennungen und einer Erwähnung Neuseelands zog sich Sir Kevin gekränkt zurück. Immerhin hatte er seine Meinung deutlich gemacht und wäre sicher erfreut gewesen zu erfahren, dass er die Queen damit ins Grübeln gebracht hatte, vor allem über die Frage, warum sie ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt und in ihrem Alter plötzlich den Sog der Literatur spürte. Wo kam dieser Bücherhunger her?
Schließlich hatten nur wenige Menschen mehr von der Welt gesehen als sie. Es gab kaum ein Land, das sie nicht besucht, kaum eine bekannte Persönlichkeit, die sie nicht getroffen hatte. Sie gehörte selbst zum Kaleidoskop der globalen Gesellschaft, wieso war sie dann jetzt so fasziniert von Büchern, die vielleicht alles Mögliche waren, aber doch vor allem ein Spiegelbild oder eine Version der Welt? Warum Bücher? Sie hatte die Wirklichkeit gesehen.
»Ich glaube, ich lese«, sagte sie zu Norman, »weil man zu ergründen verpflichtet ist, wie die Menschen sind.« Eine Binsenweisheit, die Norman nicht weiter beschäftigte, denn er fühlte keine derartigen Verpflichtungen und las aus purem Vergnügen, nicht um der Erleuchtung willen, obwohl diese Erleuchtung ein Teil des Vergnügens war, so viel war ihm auch klar. Aber Pflicht spielte da keine Rolle.
Wer jedoch so erzogen war wie die Queen, für den musste das Vergnügen immer hinter der Pflicht zurücktreten. Hätte sie das Gefühl, zum Lesen verpflichtet zu sein, so könnte sie es reinen Gewissens tun, und jegliches auftretende Vergnügen würde dabei die Nebenrolle spielen. Aber warum ergriff die Literatur jetzt von ihr Besitz? Darüber sprach sie nicht mit Norman, denn sie merkte, es hatte vor allem damit zu tun, wer sie war, welche Stellung sie innehatte.
Der Reiz des Lesens lag in seiner Indifferenz: Literatur hatte etwas Erhabenes. Büchern war es egal, wer sie las oder ob sie überhaupt gelesen wurden. Vor ihnen waren alle Leser gleich, auch sie selbst. Die Literatur, dachte sie, ist ein Commonwealth; Bücher darin die Republiken. Tatsächlich hatte sie diesen Ausdruck, die Republik der Bücher, schon mehrfach gehört – bei Examensfeiern, Ehrendoktorverleihungen und dergleichen –, ohne genau zu wissen, was damit gemeint war. Zu jener Zeit hatte sie jegliche Erwähnung wie auch immer gearteter Republiken, noch dazu in ihrer Gegenwart, als leicht beleidigend oder zumindest taktlos empfunden. Erst jetzt begriff sie, was die Worte bedeuteten. Bücher buckelten nicht. Alle Leser waren gleich, und
Weitere Kostenlose Bücher