Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
genau richtige Folge genetischer Veränderungen?
Wirklich religiöse Menschen werden natürlich sagen, es war Gottes Hand. Doch selbst für eine übernatürliche Macht wäre das eine höchst unwahrscheinliche Leistung gewesen. Um die Menschheit zu erschaffen, hätte ein göttlicher Schöpfer eine astronomisch hohe Zahl genetischer Mutationen ins Genom einbringen und zugleich die physikalischen und die biologischen Lebensumstände über Millionen Jahre so austarieren müssen, dass die archaischen Vormenschen auf Kurs blieben. Dasselbe hätte er mit ein paar Zufallsgeneratoren leisten können. Nein, es war die natürliche Selektion und keine schöpfende Hand, die diesen Faden durch das Labyrinth zog.
Fast ein halbes Jahrhundert lang war es unter seriösen Wissenschaftlern (mich eingeschlossen), die eine naturalistische Erklärung für die Herkunft der Menschheit suchten, verbreitet, die Antriebskraft der menschlichen Evolution in der Verwandtenselektion zu orten.[ 19 ] Zumindest oberflächlich war die Verwandtenselektion, die auf Gruppenebene zu einer Eigenschaft namens Gesamtfitness führt, ein attraktives, ja verführerisches Konzept. Es besagt, dass Eltern, ihre Nachkommen und ihre entfernteren Verwandten durch die Koordinierung und die gemeinsamen Ziele aneinander gebunden sind, wie sie durch wechselseitige altruistische Handlungen möglich werden. In der Tat ist Altruismus unter dem Strich für jedes Gruppenmitglied von Nutzen, weil jeder Altruist aufgrund der gemeinsamen Abkunft zu einem gewissen Anteil dieselben Gene besitzt wie die meisten Mitglieder seiner Gruppe. Da alle Verwandten einen Anteil gleicher Gene haben, steigert die Selbstaufopferung eines Individuums die relative Anzahl dieser Gene in der nächsten Generation. Fällt diese Steigerung größer aus als die durchschnittlichen Kosten durch den Umstand, dass weniger Gene über den persönlichen Nachwuchs weitergereicht werden, so wird der Altruismus gefördert und es entwickelt sich eine Gesellschaft. Die Aufteilung der Individuen auf reproduktive und nichtreproduktive Kasten ist zum Teil eine Erscheinungsform von selbstaufopferndem Verhalten im Interesse der Sippe.
Zum Nachteil dieser Hypothese sind die Grundlagen der allgemeinen Theorie der Gesamtfitness, die auf den Annahmen der Verwandtenselektion fußen, inzwischen zerbröckelt, während die Beweislage dafür bestenfalls zweideutig ausfällt. Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.
Eine neue Theorie der eusozialen Evolution, die sich teils meiner Zusammenarbeit mit den theoretischen Biologen Martin Nowak und Corina Tarnita, teils der Arbeit anderer Forscher verdankt, liefert nun getrennte Erklärungen für den Ursprung eusozialer Insekten einerseits und menschlicher Gesellschaften andererseits. Bei Ameisen und anderen eusozialen Wirbellosen gilt der Prozess weder als Verwandtenselektion noch als Gruppenselektion, sondern als Selektion auf der Ebene des Individuums, im Fall der Ameisen und anderer Hautflügler von Königin zu Königin; die Arbeiterinnenkaste stellt dabei eine phänotypische Erweiterung der Königin dar. Die Evolution kann so voranschreiten, weil die Königin sich in den Frühstadien der Kolonialevolution weit von ihrer Geburtskolonie entfernt und die Mitglieder ihrer Kolonie selbst gebiert.[ 20 ] Beim Menschen verläuft die Bildung neuer Gruppen seit prähistorischen Zeiten und bis heute grundlegend anders – zumindest nach meiner persönlichen Interpretation und der einiger anderer Wissenschaftler unter Rückgriff auf die komparative Biologie. Die Evolutionsdynamik des Menschen wird sowohl von der individuellen als auch von der Gruppenselektion angetrieben. Den Prozess, der an mehreren Ebenen angreift, antizipierte bereits Darwin in seiner Abstammung des Menschen:
Wenn nun in einem Stamme irgend ein Mensch, welcher scharfsinniger ist als die Übrigen, eine neue Finte oder Waffe oder irgend ein anderes Mittel des Angriffs oder der Verteidigung erfindet, so wird das offenbarste eigene Interesse, ohne die Unterstützung großer Verstandesthätigkeit, die andern Glieder des Stammes dazu bringen, ihn nachzuahmen, und hierdurch werden Alle Vortheile haben. Die gewohnheitsgemäße Übung einer jeden neuen Kunst muß gleichfalls in einem unbedeutenden Grade den Verstand kräftigen. Ist die neue Erfindung von großer Bedeutung, so wird der Stamm an Zahl zunehmen, sich verbreiten und andere Stämme verdrängen. In einem
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