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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward O. Wilson
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Insektenweibchen dagegen kann begattet werden und die Spermien in ihrer Spermathek dann gleichsam als tragbares Männchen über weite Strecken transportieren. Sie kann weit entfernt von ihrem Geburtsnest aus eigenen Mitteln eine neue Kolonie gründen.
    Die Überwältigung der individuellen Selektion durch die Gruppenselektion ist bei Säugetieren und anderen Wirbeltieren nicht nur selten; sie war zudem nie vollständig und wird es wahrscheinlich auch nie sein. Die Grundlagen von Lebenszyklus und Populationsstruktur bei Säugetieren stehen dem im Wege. Im Theater der sozialen Evolution bei Säugetieren ist ein insektenartiges Sozialsystem nicht aufführbar.
    Die zu erwartenden Folgen dieses Evolutionsprozesses beim Menschen sind folgende:
    – Zwischen Gruppen kommt es zu intensiver Konkurrenz, unter vielen Umständen auch zu territorialen Übergriffen.
    – Die Gruppenzusammensetzung ist instabil, weil der Vorteil steigender Gruppengrößen (durch Einwanderung, ideologische Missionierung und Eroberung) sich gegen Gelegenheiten der Vorteilnahme durchsetzen muss, bei denen Gruppen usurpiert und aufgespaltet werden, so dass neue Gruppen entstehen.
    – Es besteht eine unvermeidliche, ständige Auseinandersetzung zwischen einerseits Ehre, Tugend und Pflicht, den Produkten der Gruppenselektion, und andererseits Egoismus, Feigheit und Heuchelei, den Produkten der individuellen Selektion.
    – Die Perfektionierung der Fähigkeit, schnell und zutreffend die Absichten der anderen zu erkennen, war und ist in der Evolution des menschlichen Sozialverhaltens von überragender Bedeutung.
    – Ein großer Teil der Kultur, darunter insbesondere die Inhalte der Kunst, ergibt sich aus dem unvermeidlichen Zusammenprall von individueller Selektion und Gruppenselektion.
    Kurz gesagt, die Natur des Menschen ist ein endemisches Getümmel, das in den Evolutionsprozessen wurzelt, aus denen wir hervorgegangen sind. In unserer Natur existiert das Schlimmste neben dem Besten, und das wird immer so bleiben. Wollten wir es entwirren (wenn das überhaupt möglich wäre), so wären wir keine Menschen mehr.

7.
STAMMESSYSTEME ALS GRUNDLEGENDES MENSCHLICHES MERKMAL
    Dass Menschen Gruppen bilden, tiefste Zufriedenheit und Stolz aus familiärer Verbundenheit schöpfen und sich gegen rivalisierende Gruppen engagiert verteidigen, gehört zu den absoluten Universalien ihrer Natur und damit ihrer Kultur.
    Hat sich eine Gruppe mit einem bestimmten Zweck gebildet, so sind freilich ihre Grenzen flexibel. Familien werden normalerweise als Untergruppen integriert, obwohl sie durch Loyalitäten zu anderen Gruppen häufig gespalten sind. Dasselbe gilt für Verbündete, Neulinge, Konvertiten, Ehrenmitglieder und aus anderen Gruppen übergelaufene Verräter. Jedes Mitglied einer Gruppe erhält eine Identität und ein Recht auf gewisse Ansprüche. Umgekehrt verleiht alles Ansehen und Vermögen, das der Einzelne erwirbt, seinen Gruppengenossen Identität und Macht.
    Moderne Gruppen entsprechen psychologisch den Stämmen der ur- und vorgeschichtlichen Zeit. Als solche sind diese Gruppen direkt aus den Verbänden der primitiven Vormenschen hervorgegangen. Der Instinkt, der sie aneinanderbindet, ist das biologische Produkt der Gruppenselektion.
    Menschen brauchen einen Stamm. Er verleiht ihnen einen Namen und ihre eigene soziale Bedeutung in einer chaotischen Welt. Er reduziert die Desorientierung und die Gefahren der Umwelt. Die soziale Welt jedes modernen Menschen ist nicht ein einzelner Stamm, sondern eher ein System einander überlappender Stämme, in denen eine singuläre Ausrichtung nur selten möglich ist. Menschen genießen den Umgang mit Gleichgesinnten, und sie bemühen sich darum, zu den Besten zu gehören: vielleicht zu einem Elitekorps der Armee, einer Elitehochschule, dem Vorstand eines Unternehmens, einer religiösen Sekte, einer Bruderschaft oder einem Gartenverein – jeder Kollektivität, die sich vorteilhaft mit anderen, konkurrierenden Gruppen derselben Kategorie vergleichen lässt.
    Auf der ganzen Welt sind die Menschen aus Furcht vor den Folgen heute zurückhaltender mit dem Krieg und wenden sich zunehmend seinem moralischen Äquivalent in sportlichen Auseinandersetzungen zu. Das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit und nach der Überlegenheit der eigenen Gruppe lässt sich mit einem Sieg der Krieger beim Aufeinandertreffen auf ritualisierten Schlachtfeldern befriedigen. Wie die aufgeräumten, herausgeputzten Bürger von Washington, D. C., die zu

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