Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
hierdurch zahlreicher gewordenen Stamme wird auch die Wahrscheinlichkeit immer größer sein, daß andere ausgezeichnete und erfinderische Glieder geboren werden. Hinterließen solche Leute Kinder, welche deren geistige Überlegenheit erben konnten, so wird die Wahrscheinlichkeit der Geburt von noch ingeniöseren Mitgliedern wieder größer geworden sein und besonders bei einem sehr kleinen Stamme ganz entschieden größer. Selbst wenn sie keine Kinder hinterließen, wird doch der Stamm wenigstens Blutverwandte von ihnen noch enthalten, und es ist von Landwirthen nachgewiesen worden, daß durch das Erhalten einer Familie und das Nachzüchten von ihr, wenn sich überhaupt nur ein Thier aus derselben beim Schlachten als ein werthvolles herausstellte, die gewünschte Beschaffenheit erlangt worden ist. [ 21 ]
Die sogenannte Multilevel-Selektion besteht in der Wechselwirkung zwischen Selektionskräften, von denen die einen an Merkmalen individueller Gruppenmitglieder angreifen und die anderen an Merkmalen der Gruppe als Ganzem. Die neue Theorie soll die traditionelle Theorie ersetzen, die auf dem Verwandtschaftsgrad oder einem vergleichbaren genetischen Bezugswert beruht. Von Martin Nowak wurde sie auch im Fall der sozialen Insekten als Alternative zur individuellen Selektion vorgeschlagen. Mit diesem Ansatz lässt sich die Gesamtheit des Selektionsprozesses auf seine Auswirkung auf das Genom jedes Koloniemitglieds und seiner direkten Nachkommen reduzieren. Zu dem Ergebnis kommt man dann unabhängig vom Verwandtheitsgrad zwischen den einzelnen Mitgliedern jeder Kolonie, abgesehen von der direkten Verwandtschaft von Eltern zu Kindern.
Die Vorgänger des Homo sapiens , so legen es archäologische Befunde und das Verhalten moderner Jäger und Sammler nahe, bildeten gut organisierte Gruppen, die untereinander um Reviere und andere knappe Ressourcen konkurrierten. Generell ist zu erwarten, dass Konkurrenz zwischen Gruppen sich auf die genetische Fitness jedes individuellen Mitglieds auswirkt (das heißt auf den Anteil persönlicher Nachkommen, den es zur künftigen Gruppenpopulation beiträgt), und das nach oben wie nach unten. Ein Einzelner kann als Ergebnis gesteigerter Gruppenfitness getötet oder verkrüppelt werden und seine individuelle genetische Fitness einbüßen, etwa in einem Krieg oder unter der Herrschaft eines aggressiven Diktators. Nehmen wir an, dass Gruppen einander in der Ausrüstung mit Waffen und anderen Technologien in etwa gleichkommen, was bei primitiven Gesellschaften über viele hunderttausend Jahre hinweg meistens der Fall war; wir können dann erwarten, dass das Ergebnis dieser Gruppenkonkurrenz weitgehend vom genauen Sozialverhalten innerhalb jeder Gruppe bestimmt wird. Die relevanten Merkmale sind Größe und Dichte der Gruppe sowie die Qualität von Kommunikation und Arbeitsteilung zwischen ihren Mitgliedern. Solche Merkmale sind in gewissem Ausmaß erblich; anders gesagt, die Variabilität zwischen ihnen beruht zum Teil auf genetischen Unterschieden zwischen den Gruppenmitgliedern und damit auch zwischen den Gruppen selbst. Die genetische Fitness jedes Mitglieds, die Anzahl seiner reproduktionsfähigen Nachkommen, wird von den Kosten und dem Nutzen seiner Gruppenmitgliedschaft festgelegt. Dazu zählen die Gunst oder Missgunst, die es aufgrund seines Verhaltens bei den anderen Gruppenmitgliedern erntet. Die Währung Gunst wird direkt und indirekt reziprok ausbezahlt, Letzteres in Form von gutem Ruf und Vertrauen. Wie leistungsfähig eine Gruppe ist, hängt davon ab, wie gut ihre Mitglieder zusammenarbeiten, und nicht davon, inwieweit jeder Einzelne innerhalb der Gruppe individuell begünstigt oder benachteiligt wird.
Die genetische Fitness eines Menschen muss daher eine Folge sowohl der individuellen als auch der Gruppenselektion sein. Das gilt freilich nur in Bezug zu den Zielen der Selektion. Egal, ob die Ziele Merkmale des Individuums sind, das im eigenen Interesse arbeitet, oder interaktive Merkmale zwischen Gruppenmitgliedern im Interesse der Gruppe: Wirklich beeinflusst wird letztlich der gesamte genetische Code des Individuums. Sinkt der Nutzen der Gruppenmitgliedschaft unter den eines Lebens als Einzelgänger, so wird die Selektion beim Individuum das Verlassen der Gruppe oder den Verrat fördern. Schreitet das weit genug voran, so löst sich die Gesellschaft irgendwann auf. Steigt dagegen der persönliche Nutzen der Gruppenmitgliedschaft weit genug an oder können egoistische Anführer
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