Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Instinkts diese Vorstellung des Gehirns als unbeschriebenes Blatt in Frage – zumindest für Tiere. Doch für das menschliche Sozialverhalten blieb das unbeschriebene Blatt noch weitere zwei Jahrzehnte aktuell. Viele Autoren der Sozial- und Humanwissenschaften bestanden weiterhin darauf, dass der Geist ganz und gar ein Produkt seiner Umwelt und seiner persönlichen Vergangenheit sei. Der freie Wille sei nicht nur existent, sondern auch einflussreich. Letzte Instanz über Willen und Werden sei der Verstand. Was sich im Geist herausbilde, argumentierten sie im Grunde, sei ausschließlich kulturell bedingt; eine genetisch bedingte menschliche Natur gebe es nicht.
Dabei waren die Belege für Instinkt und menschliche Urnatur schon damals überwältigend. Heute sind sie in Umfang und Triftigkeit nicht mehr zu leugnen, und mit jeder Untersuchung mehren sich die Beweise. Instinkt und menschliche Natur sind immer häufiger Gegenstand von Studien in der Genetik, Neurowissenschaft, Anthropologie und heute sogar in den Sozial- und Humanwissenschaften selbst.
Wie wirkt die natürliche Selektion bei der Evolution des Instinkts? Um beim Grundsätzlichen zu bleiben, stellen wir uns eine virtuelle Vogelpopulation vor, die in einem Eichen- und Kiefernmischwald nistet. Für ihre Behausungen wählen die Vögel ausschließlich Eichen aus; diese erbliche Prädisposition wird in der einfachsten möglichen Weise durch ein Allel vorgeschrieben, also durch eine Form von zwei oder mehr Versionen eines bestimmten Gens. Wir bezeichnen dieses Allel als a . Durch den Einfluss des Allels a werden Vögel automatisch zu Eichen hingezogen, wenn sie ihr Nest bauen, und ziehen sie den vielen Kiefern vor, die im selben Wald stehen. Automatisch wählt ihr Gehirn Merkmale aus, die Eichen definieren. Abgefragt werden dabei zum Beispiel Merkmale wie Höhe und Form der Krone oder wie die oberen Äste aussehen und sich anfühlen.
In einem bestimmten Wald kommt es nun zu einer Umweltveränderung. Aufgrund lokaler Klimaveränderungen und dem Aufkommen neuer Krankheiten werden Eichen selten. Kiefern sind den neuen Bedingungen besser angepasst und füllen die leeren Standorte langsam auf. Mit der Zeit werden Kiefern in dem Wald dominant. Unterdessen taucht bei den Vögeln eine zweite Form desselben Gens auf, das Allel b , eine Mutation des Eichen bevorzugenden Allels a . Vielleicht ist b auch gar keine wirklich neue Mutation. Vielleicht war sie in sehr geringer Frequenz schon immer vorhanden, aufgrund von Mutationen, die in der Vergangenheit selten, aber wiederholt aufgetreten sind. Oder aber das Kiefern bevorzugende b wurde von einem immigrierten Vogel eingetragen, der aus einer anderen, überwiegend Kiefern bevorzugenden Population in einem Nachbarwald stammte.
17.1 Genetische Evolution in einfachster Form entsteht, wenn zwei Versionen (Allele) desselben Gens unterschiedliche Merkmale bedingen – in diesem hypothetischen Fall die Gefiederfarbe –, weil eine der beide Versionen (dunkelblau) besser überlebt oder sich besser fortpflanzt oder beides.
Egal, woher es kommt – dieses Allel b bewirkt jedenfalls, dass die Vögel, die es besitzen, lieber in Kiefern nisten und nicht in Eichen. Im sich verändernden Wald, in dem die Kiefern allmählich die Dominanz über Eichen übernehmen, ist b nun erfolgreicher als a – oder genauer gesagt sind Vögel, die Träger von b sind, erfolgreicher als Träger von a . Von einer Generation zur nächsten steigt die Frequenz von b innerhalb der Gesamtpopulation von Vögeln an. Irgendwann ersetzt es vielleicht a ganz, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist es zur Evolution gekommen . Diese Veränderung in der Erblichkeit der Vogelpopulation ist nicht sehr bedeutend im Vergleich zum Rest des gesamten genetischen Codes. Wir haben es mit einem Ereignis der «Mikroevolution» zu tun. Die Folgen sind trotzdem kolossal. Die Verschiebung vom Überwiegen eines Allels a zum Überwiegen eines Allels b macht es möglich, dass die Vogelart weiterhin einen Wald bewohnt, der nun überwiegend aus Kiefern besteht. Zu dieser evolutionären Veränderung ist es durch natürliche Selektion gekommen. Die Veränderung der natürlichen Umgebung hat zur Bevorzugung des Allels b gegenüber dem zuvor dominanten a geführt. Ein Ergebnis des Instinkts zur Nistplatzwahl wurde durch ein anderes ersetzt.
In allen Populationen jeder Art kommt es an allen Merkmalen der Art einschließlich des Verhaltens ständig zu solchen Mutationen. Das mögen
Weitere Kostenlose Bücher