Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
zufällige Veränderungen an den Basenpaaren sein, den «Buchstaben» der DNA, wie bei der Veränderung von Allel a zu Allel b ; oder der Aufbau kleiner DNA-Abschnitte verändert sich durch Sequenzduplikationen; oder es kommt zu Veränderungen in der Anzahl oder der Anordnung der Chromosomen, den Trägern der DNA-Moleküle. Die meisten Mutationen fügen dem Organismus auf die eine oder andere Weise Schaden zu und verschwinden deswegen schnell – oder halten sich bestenfalls auf extrem niedrigem, «mutationellem» Niveau. Sehr wenige aber bringen wie unser mutiertes Allel b , das den Kiefernwald den zuvor auf Eichen spezialisierten Vögeln eröffnete, eben doch einen Vorteil für Überlebens- oder Reproduktionsfähigkeit oder für beides. Ihre Frequenz in der Population nimmt daher zu. Beständig tauchen hie und da im genetischen Code weitere Mutationen auf, überwiegend schlechte, aber auch einige gute. Demnach geht die Evolution beständig weiter.
Obwohl mutierte Allele und andere genetische Veränderungen an den Milliarden von DNA-Buchstaben im Erbmaterial durchaus häufig sind, ist ein bestimmtes Gen von einem solchen Ereignis nur sehr selten betroffen. Wir sprechen hier von Zahlen wie eins zu einer Million oder zu zehn Millionen Fällen pro Generation. Kommt es freilich doch zu einer Veränderung, die Überleben und Reproduktion fördert, wie unsere fiktive Mutation am Kiefern bevorzugenden Allel b , so kann sie sich schnell ausbreiten. In nur zehn Generationen kann sie zum Beispiel von 10 Prozent Anteil aller Allele in der Population auf 90 Prozent hochschnellen – und das selbst, wenn der Selektionsvorteil nur gering ausfällt.
Heute verfügen wir über eine umfassende wissenschaftliche Literatur zur Evolutionsdynamik, die auf einhundert Jahren mathematischer Theorie sowie auf empirischen Feld- und Laborstudien fußt. Auf Grundlage dieses Wissens nimmt die heutige Evolutionsbiologie an Umfang, Genauigkeit und Einfluss zu. Die Forscher arbeiten an einer breiten Themenfront von sexueller und asexueller Fortpflanzung bis zur molekularen Grundlage der partikulären Vererbung. Andere Wissenschaftler untersuchen das Zusammenspiel verschiedener Gene während der Entwicklung von Zelle und Organismus sowie den Einfluss unterschiedlichen Drucks aus der Umwelt auf die Mikroevolution.
In seinen Details kann das Thema Evolution auf genetischer Ebene abschreckend fachlich werden. Trotzdem lassen sich mehrere generelle Prinzipien festhalten, die unmittelbar einleuchten und zugleich die wesentlichen Eckpunkte für das Verständnis der genetischen Grundlage von Instinkt und Sozialverhalten darstellen.
Eines dieser Prinzipien lautet, im Prozess der Evolution zwischen der Vererbungseinheit einerseits und dem Selektionsziel andererseits zu unterscheiden. Die Einheit ist ein Gen oder eine Reihe von Genen, die Teil des Erbmaterials sind (also a und b bei unseren Waldvögeln). Das Ziel der Selektion ist das Merkmal oder die Kombination von Merkmalen, für die die Erbeinheiten codieren und die von der Umwelt begünstigt werden oder nicht. Beispiele für solche Ziele sind beim Menschen eine Neigung zum Bluthochdruck oder die Resistenz gegen eine Krankheit oder im Verhalten von Vögeln die instinktive Entscheidung für einen Nistplatz.
Die natürliche Selektion ist normalerweise eine Multilevel -Selektion: Sie greift an Genen an, die Ziele auf mehr als einer biologischen Organisationsebene steuern, etwa Zelle und Organismus oder Organismus und Kolonie. Ein extremes Beispiel der Multilevel-Selektion sind Krebserkrankungen. Die Krebszelle ist ein Mutant, der auf Kosten des Organismus, also der Zellgemeinschaft, auf der nächsthöheren Ebene biologischer Organisation unkontrolliert wächst und sich vermehrt. Die Selektion auf einer Ebene (der Zelle) kann der auf der nächsten Ebene (dem Organismus) genau entgegenwirken. Die außer Kontrolle geratenen Krebszellen verursachen bei der größeren Zellgemeinschaft (dem Organismus), zu der sie ja selbst gehören, Krankheit und Tod. Umgekehrt bleibt die Gemeinschaft gesund, wenn das Wachstum der Krebszellen in Schranken gehalten werden kann.
In Kolonien aus tatsächlich kooperierenden Individuen (also beim Menschen, im Unterschied zu den nur roboterartigen Ausdehnungen des mütterlichen Genoms bei eusozialen Insekten) belohnt die Selektion unter genetisch unterschiedlichen Einzelmitgliedern egoistisches Verhalten. Im menschlichen Gruppenvergleich dagegen belohnt die Selektion
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